Marter: Thriller (German Edition)
sich nicht losreißen. Jetzt wurde ihr allmählich klar, warum Carnivia und dessen Schöpfer für solches Aufsehen sorgten. Dieses Gewäsch zu lesen war widerlich, aber sie sah sich auch nicht wirklich imstande, damit aufzuhören. Jedes Mal, wenn sie beschloss, sich auszuloggen, entdeckte sie wieder einen Namen, den sie kannte, und einen weiteren Eintrag, der darum bettelte, gelesen zu werden. Ein Teil von ihr wünschte sich, die Namen würden einfach verschwinden, damit sie nicht die Willenskraft aufbringen müsste, von sich aus mit dem Lesen aufzuhören.
Dann, in einem Augenblick schrecklicher Klarheit, kam ihr der Gedanke, dass da ja auch Klatsch und Tratsch über sie zu finden sein könnte.
Sie suchte.
Katerina Tapo – acht Einträge
Als sie auf ihren Namen klickte, tauchte auf dem Bildschirm allerdings nur die folgende Botschaft auf.
Sind Sie sicher?
Sie zögerte, ehe sie auf »Abbrechen« klickte.
21
Daniele Barbo loggte sich auf Carnivia ein genau wie schon Tausende von Malen zuvor. Auf der Anmeldeseite, die das Bild einer grinsenden Karnevalsmaske zierte, tippte er sein Verwaltungspasswort ein. Alles auf dem Bildschirm blieb, wie es war, nur dass nun unterhalb der Anmeldemaske ein zweizeiliges Feld ausschließlich für Administratoren erschien:
Wie möchten Sie die Seite betreten:
a) sichtbar
b) unsichtbar?
Er wählte die zweite Option, dann klickte er auf »Eintreten«.
Er befand sich in einem wunderschön mit Marmor ausgekleideten Palazzo – genau der Palazzo im Grunde, in dem er in der wirklichen Welt gerade saß. Der Haupteingang in die Welt von Carnivia war dem der Ca’ Barbo nachempfunden, auch wenn man auf die modernen Skulpturen und die Gemälde, die sein Vater gekauft hatte, bei der Onlineversion verzichtet hatte. An diesem Detail hatten ein paar Kritiker ihre helle Freude gehabt. Tatsächlich war es einfacher gewesen, so hatte er es damals geduldig zu erklären versucht, die dreidimensionalen Bereiche von Carnivia einem Ort nachzuempfinden, mit dem er selbst vertraut war, und die Giacomettis und die Picassos wegzulassen hatte ihm Probleme mit der Stiftung erspart, da sie das Urheberrecht innehatte.
Die Erklärung war gut, trotzdem war ihm insgeheim klar gewesen, dass diese Experten gar nicht mal so unrecht hatten.
Um ihn herum eilten maskierte Gestalten in Kostümen aus dem siebzehnten Jahrhundert hin und her. Die Ca’ Barbo war in der Welt von Carnivia ein guter Ort, um Post aufzusammeln oder um eine Gondel anzuheuern, die einen an jeden beliebigen Ort der Stadt brachte. Man konnte dort sogar einen virtuellen Computer benutzen, und das bedeutete, dass beispielsweise, wenn man sich bei Facebook einloggte, die wahre Identität hinter der Carnivia-Maske verborgen blieb.
Die unscheinbare App, die den Facebook-User darüber informierte, dass man »einen geheimen Bewunderer« habe, was stets mit dem Geschenk einer virtuellen Rose einherging, die im Laufe der folgenden Tage allmählich ihre Blätter abwarf, war eines der ersten Details gewesen, die weltweit für Aufsehen gesorgt hatten. Millionen anonymer Botschaften waren verschickt worden, insbesondere nachdem man ein Feature eingeführt hatte, welches es dem »Bewunderten« erlaubte, einen anonymen Dialog mit dem »Bewunderer« zu beginnen.
Selbstverständlich hatte es nicht lange gedauert, bis jemand den Quelltext kopiert hatte, um die Nachricht »Jemand findet dich ganz fürchterlich« daraus zu machen. In dem anschließenden Aufruhr hatten die Facebook-Betreiber versucht, sämtliche Carnivia-Apps zu sperren – nur um festzustellen, dass es unmöglich war, die Codierung zu blocken, so sorgfältig war sie ausgearbeitet. Carnivia war daher auch bekannt, weil Mark Zuckerberg erst eine persönliche Aufforderung an Daniele Barbo richten musste, ehe der sich einverstanden erklärte preiszugeben, wie das Ganze funktionierte.
Diese Kontroverse war allerdings nichts im Vergleich zu dem, was geschah, als Daniele Carnivia so einrichtete, dass in der echten Welt Daten von Computern gezogen werden konnten – was man in der Sprache der Computernerds als »Scraping« bezeichnet. Diese Daten benutzte man dann dazu, sich ein Bild von Leuten zu machen, die man kannte: von Kollegen, Verwandten, Nachbarn, Freunden, sogar von Prominenten, die einen interessierten. Es handelte sich, so die Kritiker, um eine Einladung, sich an der schlimmsten Form von Mobbing zu beteiligen. Und dennoch hatten die Besucherzahlen auf Carnivia sich quasi über Nacht
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