Marter: Thriller (German Edition)
stammten, verschoben sich und bildeten eine geodätische Verwerfung, sodass für einen kurzen Augenblick die elektronischen Wireframes dahinter sichtbar wurden. Der Marmor auf dem Boden büßte sein typisches Muster ein, und durch Teile des vergoldeten Daches wurde für Sekunden der Himmel sichtbar. Daniele hatte das Gefühl, eine winzige Puppe in einem Puppenhaus zu sein, das von einer starken Person hochgehoben und durchgeschüttelt wurde bei dem Versuch, einen Blick ins Innere zu erhaschen.
Er wartete ab. Carnivia verfiel wieder in den Normalzustand, als die Server reagierten und gegen die Belastung angingen. Der Angriff war misslungen.
Die Frau erhob sich und trat auf eine dunkle Ecke zu, wo verborgen in den Schatten eine alte Eichentruhe stand. Daniele erkannte darin ein Repositorium, eines von Dutzenden, die er und seine Programmierer über die Stadt verteilt hatten. Trotz des mittelalterlichen Erscheinungsbildes handelte es sich um einen der sichersten Orte, an denen man im Internet Informationen hinterlassen konnte.
Die Frau sperrte die Kiste mit einem codierten Generalschlüssel auf und warf einen Blick ins Innere. Auch Daniele sah hinein: Sie war leer. Doch stellte er verwundert fest, dass man das Innere der Kiste verändert hatte und dort ein ungewöhnliches Design zu sehen war, eine Art Hieroglyphenmuster, das in den hölzernen Deckel geschnitzt war. Auch wenn er selbst dafür gesorgt hatte, dass solche Veränderungen überhaupt erst möglich waren, hatte er dennoch nie zuvor etwas Vergleichbares gesehen.
Die Frau hinterließ eine Nachricht in der Truhe, dann sperrte sie sie wieder ab und verschwand. Auch diese Botschaft war verschlüsselt, doch Daniele hatte so eine Ahnung, was sie zu bedeuten hatte.
Ich habe gewartet, doch du bist nicht aufgetaucht. Wo steckst du?
22
Holly hinterließ eine Nachricht für Ian Gilroy, in der sie ihn bat, sich nicht weiter um die Übersetzung der Dokumente zu bemühen, die sie ihm ausgehändigt hatte. Doch zu ihrer Überraschung klang er zögerlich, als er sie zurückrief.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Nun, wie es der Zufall so will, habe ich mir die Unterlagen bereits angesehen.«
»Und? Haben Sie etwas gefunden?«
»Außerdem haben Sie mir ein gemeinsames Abendessen versprochen«, erwiderte er und ging so nicht direkt auf ihre Frage ein. »Hätten Sie denn zufällig heute Abend Zeit?«
»Gewiss.«
»Ich muss mich vorher noch auf einer Kunstausstellung blicken lassen, die heute in Venedig eröffnet wird. Würden Sie mich dorthin begleiten? Anschließend könnten wir etwas essen.«
»Das klingt wundervoll.«
»Gut.« Er gab ihr die Wegbeschreibung, und sie verabredeten sich für acht.
Zu der vereinbarten Uhrzeit traf sie ihn vor der Galerie, einem umgebauten Warenhaus in der Nähe vom Arsenal, wie er ihr erklärte, das man des Öfteren für die Kunstausstellungen zur Biennale zweckentfremdete.
»Sie interessieren sich für moderne Kunst?«, erkundigte sie sich voller Bewunderung, als sie sich umsah. Sie hatte ihn bei Weitem nicht für so zeitgemäß gehalten, was seinen Geschmack betraf.
Er lachte. »Nein, natürlich nicht. Der Mann, der die Kunststiftung ins Leben gerufen hat, zu der diese Sammlung gehört, war ein guter Freund von mir – Matteo Barbo, ein aristokratischer Spross einer der alteingesessenen Familien in Venedig. Ehe er starb, hat er mich gebeten, mich als Aufsichtsratsmitglied zur Verfügung zu stellen. Das ist also auch einer von meinen kleinen Pensionsjobs.«
»Barbo«, sagte sie nachdenklich. »Ich kenne diesen Namen.«
»Der Sohn, Daniele, wurde als Kind entführt.« Gilroy senkte die Stimme. »Ganz zwischen uns, so habe ich Matteo überhaupt erst kennengelernt. Die Firma konnte den Italienern im Falle dieser Entführung ganz inoffiziell ihre Hilfe anbieten. Doch trotz all unserer Bemühungen büßte der Junge leider beide Ohren und einen Teil seiner Nase ein. Schon davor war er ein sonderbares Kind gewesen, hinterher aber zog er sich mehr und mehr zurück. Sein Vater gab sich selbst die Schuld daran, da er den Kidnappern nicht das Geld bezahlt hatte, das sie verlangten.«
»Wird Daniele heute Abend auch hier sein?«
»Das bezweifle ich. Er hält sich weitestgehend aus den Aktivitäten der Stiftung heraus.« Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Sie sehen übrigens wundervoll aus. Ich hoffe, Ted weiß, zu was für einer schönen Frau seine Tochter herangewachsen ist.«
Sie wurde rot. »Vielen Dank.«
Sie konnte nicht leugnen,
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