Marter: Thriller (German Edition)
musste doch gewusst haben, dass sie nicht mit der Presse sprechen würde, und außerdem, keiner, der hinter einer Sensationsmeldung her war, packte es so an, in aller Öffentlichkeit: Vielmehr rief man in diesem Fall ganz diskret an oder arrangierte ein heimliches Interview in der Gegend hinter der Fondamenta San Severo.
Was darauf schließen ließ, dass er seine Sensationsmeldung bereits hatte und er von ihr lediglich noch genau diese Worte hören wollte.
Sie holte ihr Handy aus der Tasche und rief Piola an.
»Die Presse wartet vor dem Hauptquartier«, sagte sie ohne Umschweife. »Sie reden von den ›Satanistenmorden‹.«
Er stieß ein verhaltenes Fluchen aus. »Der Arsch hat wirklich keine Zeit verschwendet, das muss man ihm lassen. Aber gut, danke für die Vorwarnung.«
Um halb sechs war sie an ihrem Posten in der Nähe des Bahnhofs, in Jeans und einer alten Lederjacke. Es war noch relativ ruhig: Um diese Stunde saßen die Mädchen meist noch mit ihren Zuhältern herum und nippten ohne viele Worte an ihren Drinks, während die Männer durcheinanderriefen und sich gegenseitig anrempelten und mit Handys und Geld herumfuchtelten. Wenn die Männer zum Pinkeln gingen oder die Mädchen nach draußen traten, um eine Zigarette zu rauchen, würde sie Gelegenheit haben, eine von ihnen für einen Augenblick allein sprechen zu können. Dann würde sie das Foto herzeigen. »Haben Sie dieses Mädchen schon mal gesehen?« Die Reaktion war fast immer die Gleiche: ein flüchtiger, desinteressierter Blick, ein Schulterzucken, dann ein zweiter, etwas vorsichtigerer Blick auf Kat, wenn ihnen klar wurde, dass sie eine Polizistin war. Anschließend kehrten sie ihr alle einfach den Rücken zu.
Ihre nächste Frage, als sie ihre Erkennungsmarke zum Vorschein brachte, lautete folgendermaßen: »Hat Sie schon mal jemand nach diesem Mädchen gefragt?« Sie konnte von Glück sagen, wenn sie daraufhin überhaupt so etwas wie ein Schulterzucken erntete.
Doch manchmal, wenn sie richtig das große Los zog, dann war das Mädchen high. Kokain war am besten: Es machte sie gesprächig. Ein paar von den Frauen sagten aus, man habe ihnen dieses Foto schon mal gezeigt. »War eine Kroatin.«
Sämtliche Mädchen, mit denen sie sich unterhielt, stammten aus Osteuropa – aus Kroatien, Bosnien, Slowenien, Serbien, Mazedonien, Albanien oder Montenegro: eine Parade von noch jungen Ländern mit blutiger Vergangenheit, die zusammengenommen ein spiegelverkehrtes Italien auf der anderen Seite der Adria bildeten. Sie alle hatten einen leeren Blick. Viele von ihnen hatten winzige Pusteln und Brandmale um den Mund, die noch nicht einmal dick aufgetragener, scharlachroter Lippenstift überdecken konnte: ein Zeichen chronischen Lösungsmittelmissbrauchs.
»Zwei kroatische Frauen haben mir das schon mal gezeigt«, erfuhr sie von einer.
»Zwei? Sind Sie sicher?«
»Aber eine hatte einen amerikanischen Akzent.«
Irgendwo in Kats Gehirn bewegte sich ein Rädchen an den richtigen Platz. Also sprach Barbara Holton trotz ihres amerikanischen Namens auch Serbokroatisch. Möglicherweise Amerikanerin in zweiter Generation, ihre Eltern stammten vielleicht von dort.
Ein weiteres Mädchen sah sich das Foto an, kaute auf ihrem Kaugummi herum und sagte dann völlig ausdruckslos: »Ein Mann hat es mir gezeigt.«
»Was für ein Mann?«
»Ein Amerikaner. Aber er wollte nicht zahlen.«
»Wie sah der Mann aus?«
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Wie der typische Freier. Er war groß, verstehen Sie? Wirkte sehr kräftig.«
Zwei Mal wurde Kat von Zuhältern mit Springmessern bedroht. Die ließen zwar von ihr ab, als sie ihre Polizeimarke zückte, doch die Messer wollten sie nicht wegstecken. Aus dieser Sorte Bars verschwand sie ganz schnell wieder.
Und dann war da ein Mädchen, das recht klug und redegewandt war. Weit und breit war kein Zuhälter in Sicht, und sie meinte, sie würde sich mit Kat unterhalten, wenn die sie für ihre Zeit bezahlte. Kat gab ihr also die fünfzig Euro, die sie dafür verlangte. Nein, sie hätte das Mädchen oder die Kroatisch sprechende Frau, die nach ihr gesucht hatte, nicht gesehen, aber sie habe gehört, ein Amerikaner habe nach einem bestimmten Mädchen aus Kroatien gesucht, daher dachte sie, es wäre vielleicht bei ihm.
Das Mädchen schien recht redselig, daher erkundigte Kat sich nach ihrer Herkunft. Ihr Italienisch war weit besser als das der meisten anderen, trotzdem sprach sie mit unverkennbar osteuropäischem Akzent.
Das
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