Martha Argerich
Buenos Aires rief Martha auch einen alle zwei Jahre stattfindenden internationalen Klavierwettbewerb ins Leben, getreu ihrem Motto, jungen Musikern zu helfen und unbekannte Talente zu promoten. 1999 wurde der erste Preis an die japanische Pianistin Etsuko Hirose verliehen, die später nach Frankreich gehen sollte. Das Jurymitglied Nelson Freire war besonders angetan von ihrer Interpretation von Beethovens Klaviersonate Nr. 23 , der Appassionata . Im Jahr 2001 wollte die Jury keinen ersten Preis ausloben, doch Martha protestierte dagegen. Sie dachte ans Publikum, aber vor allem an die Kandidaten, die so viele Mühen auf sich genommen hatten und nun Gefahr liefen, nicht dafür honoriert zu werden. Am Ende teilten sich zwei brasilianische Pianisten den ersten Preis: Sergio Monteiro und Alexandre Dossin. Während des laufenden Wettbewerbs war einer der beiden Konkurrenten Opfer einer Art Horrorvision geworden, die ihn am Weiterspielen gehindert hatte, denn es handelte sich um den Todestag seines Großvaters. Bei jedem anderen Wettbewerb hätte man ihn vor die Tür gesetzt, doch Martha bestand darauf, ihm am nächsten Tag eine zweite Chance zu geben. Sie kannte die verhängnisvolle Macht der düsteren Wahnbilder zu gut, von denen Künstler hin und wieder heimgesucht werden.
In jenem Jahr wurde das Konzert der Preisträger mit Orchester aus unbekannten Gründen annulliert, wohl wegen einer Mischung aus verwaltungstechnischen Absurditäten und internen
Querelen. Die Organisatorin María Rosa Oubiña de Castro (alias Cucucha) musste ihre Ohnmacht eingestehen. Martha war den Tränen nahe. Alan Kwiek, ein junger Mitarbeiter des Festivals, sagte zu ihr: »Ich will versuchen, das wieder geradezu-
biegen – aber nur, wenn du noch vier Tage länger bleibst.« Er tat ein Orchester und einen Konzertsaal in Salta auf, einer wunderschönen Kolonialstadt an den Ausläufern der Anden, im Grenzgebiet zu Chile, Bolivien und Paraguay. Und das Konzert fand tatsächlich statt! Der gut aussehende achtzehnjährige Spross eines brasilianischen Vaters und rumänischen Urgroßvaters, mit polnischem Namen und Zigeunerblut in den Adern, hatte alles, um Martha für sich einzunehmen. Sie hatte ihn 1999 kennengelernt. Er hatte sie auf dem Bürgersteig vor dem Hotel Presidente entdeckt, wo sie untergebracht war. »Was guckst du so?«, hatte sie ihm ungeduldig zugerufen. Als Alan erwiderte, sie sei in Wirklichkeit noch viel schöner als auf Fotos, musste sie lachen. Sie erfuhr, dass er Pianist war und mehr schlecht als recht sein Dasein fristete: Hier eine Klavierstunde, da ein Miniauftritt. Sie lud ihn auf ein Glas Wein in die Hotellobby ein, wo sie sich bestens unterhielten. Hin und wieder provozierte Alan sie mit Fragen wie: »Warum hast du kein Auto mit Chauffeur wie Bruno Leonardo Gelber?« Die Pianistin versteifte sich. »Warum fragst du das?« Die alte, von Scaramuzza begründete Rivalität machte sich wieder an der Oberfläche breit. Am Ende lud Martha den jungen Mann zu ihrem Konzert ein und verschaffte ihm einen Job in der Festivalorganisation.
Zu jener Zeit hatte ihr Vater Tyrano sein Sprechvermögen verloren. Eine bittere Ironie des Schicksals für jemanden, der in seiner Jugend »Pico de Oro« genannt wurde, weil er trotz einer leichten Veranlagung zum Stottern so schöne Geschichten erzählen konnte! Tyrano sollte bis zu seinem Lebensende an dieser Sprechstörung leiden. Um sich mit ihm unterhalten zu können, hatte Cacique ihm ein Alphabet aus riesigen Lettern gebastelt. Er sang ihm seine Lieblingstangos vor und schenkte ihm ein kleines Radio. Juan Manuel starb mit einem Lächeln auf den Lippen, sein kleines Radio am Ohr, in dem La Cumparsita lief. Drei Jahre später, im Februar 2003, folgte ihm Cacique nach. Wie Juanita erlag er einem Krebsleiden. Für die Pianistin ein schrecklicher Schlag. Nach ihrer Mutter verlor sie erst ihren Vater und dann noch ihren kleinen Bruder! Als Kind hatte sie ihn ins Abseits gedrängt, indem sie, ohne es zu wollen und mit schlechtem Gewissen, die ganze Aufmerksamkeit der Familie auf sich gezogen hatte. Seit Caciques Tod fühlt sie sich zunehmend einsam. Um Trost zu finden, hat sie angefangen, sich mit den Lehren Buddhas zu beschäftigen und sich ihrem Freund Ivry Gitlis wieder mehr angenähert. »Na, bald sind wir alle tot!« Mit einem sanften Lächeln hat der Geiger ihr entgegnet: »Das wird so behauptet, aber wir glauben einfach nicht daran!«
Luis Cardelicchio, der Buchhalter der
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