Martha Argerich
hatte. Seine Interpretation der Ballade Nr. 2 von Liszt versetzte sie geradezu in Entzücken. Sie erfuhr, dass er aus San Pedro kam, sich mit drei Jahren selbst das Lesen beigebracht und mit fünfeinhalb Jahren mit dem Klavierspielen angefangen hatte. Goerner war Schüler von Jorge Garruba, einem der treuesten Gefolgsmänner Scaramuzzas, und der großartigen Carmen Scalcione, der »heimlichen« Lehrerin Martha Argerichs. »Bei wem soll ich studieren?«, fragte Nelson Goerner. Martha dachte an Maria Tipo, »damit er in der italienischen Schule bleibt«. Weil diese am Genfer Konservatorium unterrichtete, konnte der junge Mann dank eines Gemeinschaftsstipendiums vom Kunst- und Wissenschaftsrat der Stiftung CIMAE und vom Mozarteum Argentino, das ihm Martha besorgte, in die Schweiz übersiedeln. Inzwischen kann er auf eine beachtliche Karriere zurückblicken und lebt nach wie vor in Genf.
Ende der Neunzigerjahre kam Cacique Argerich seine große Schwester in Beppu besuchen. Beeindruckt von der Atmosphäre setzte er sich in den Kopf, in Buenos Aires ein ähnliches Festival auf die Beine zu stellen. Martha war sehr willig, ihrem Bruder zu helfen, der beruflich gerade eine schwierige Phase durchmachte. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie das Bedürfnis, die Verbindung zu ihm zu festigen. In Japan gewann ihr zartes
Beziehungspflänzchen neuen Nährboden. Eine gemeinsame Reise nach China brachte sie noch enger zueinander.
Im September 1999 erblickte das Festival Martha Argerich in Buenos Aires offiziell das Licht der Welt. Um dem Ereignis von Anfang an Brillanz zu verleihen, führte Martha im Teatro Colón Chopins Klavierkonzert Nr. 1 auf und gab zwei Konzerte zusammen mit Nelson Freire und Mischa Maisky. Die finanziellen Rahmenbedingungen waren außergewöhnlich. Der Peso war einen Dollar wert, und die Sponsoren, die aus der Ölindustrie kamen, zeigten sich trotz Anzeichen einer von Wirtschaftsexperten angekündigten Rezession sehr spendabel. 2001 sollte Argentinien die größte Bankenkrise seiner Geschichte und den Zusammenbruch seines ganzen Finanzsystems erleben. Die Arbeitslosenrate erreichte ein Rekordhoch von 23 Prozent, und die Armutsquote stieg bis auf 57 Prozent. Dramatische Fotos von Familien, die sich nachts auf die Suche nach Pappkartons begaben, um in ihren Elendsvierteln überleben zu können, gingen um die Welt. In dem Jahr hatte Martha Ivry Gitlis eingeladen, der Tschaikowskys Violinkonzert D-Dur op. 35 spielte, und den jungen Zigeunergeiger Geza Hosszu-Legocky. Letzterer war von der Polizei angehalten worden, weil er im Umkreis des Teatro Colón geraucht hatte – seit dem schrecklichen Brand von 1995 eine Straftat in Buenos Aires. Als wollte man der Finanzkrise trotzen oder sie beschwören, wurde dem Publikum ein Marathonkonzert von zwölf Uhr Mittag bis zwölf Uhr Mitternacht geboten: zwölf Stunden Musik nonstop. Von ihrer Erfahrung beim Festival im südfranzösischen Vence geprägt, hatte Martha Argerich die Idee dieser wie Flussläufe ineinanderströmenden Konzerte mit einer Vielzahl an Interpreten in mehreren europäischen Städten aufgebracht. Somit konnte sie all ihre jungen Musikerschützlinge unterbringen und schuf zugleich etwas vollkommen anderes. Sie unterlief mit diesem Konzept die neue Mode der »Instant-Konzerte«, die seit dem Aufkommen des Klassikfestivals La Folle Journée in Nantes 1995 (später in Bilbao, Rio, Tokio) auf gut verdauliche Musikhäppchen setzte, die nicht länger als 45 Minuten dauerten.
Berührt von dem verzweifelten Kampf von rund tausend Metallarbeitern, die eine Kooperative in Villa Martelli besetzten, einem Vorort von Buenos Aires, machte sich Martha auf, sie zu unterstützen. Der Pianist Eduardo Hubert, der Geiger Rafael Gintoli und der Bandoneonist Néstor Marconi begleiteten sie. Sie spielten in einem Industriehangar vor streikenden Arbeitern, deren Familien und Nachbarn. Auf dem Programm: Tschaikowsky, Beethoven, Brahms und Piazzolla. Nach jedem Stück gab das Publikum stehende Ovationen. »Eine Streicheleinheit für die Seele«, vertraute ein Zuschauer einem Journalisten an. Das Ereignis, das im nationalen Fernsehen übertragen wurde, erfuhr eine solche Aufmerksamkeit im Land, dass die Regierung unverhältnismäßig hohe Kredite bereitstellte, damit die Kooperative ihre Aktivitäten wiederaufnehmen konnte. In den darauffolgenden Jahren organisierte das Festival dann stets auch eine Reihe von Veranstaltungen in Fabriken.
Im Zusammenhang mit ihrem Festival in
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