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Martha Argerich

Martha Argerich

Titel: Martha Argerich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bellamy
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sie ausprobierten, sodass sie in der Lage waren, erst im Moment des Spielens die richtige Entscheidung zu treffen und nicht schon vorher«, vermutet Martha heute. »Er ließ seine Schüler suchen, aber auch er suchte. Ich glaube, das ist es, was einen guten Lehrer letztlich ausmacht.«
    Eines Tages wollte Scaramuzza nicht mehr, dass Martha in seinen Unterricht kam. Der Anlass: Sie hatte vergessen, ihm Guten Tag zu sagen, und sich geweigert, sich bei ihm zu entschuldigen. Ihr Vater suchte den Maestro auf, um den tieferen Grund für seinen Unmut zu erkunden. Der alte Italiener rief mit klagender Stimme: »Sie nimmt alles von mir, quetscht mich aus wie eine reife Zitrone … und gibt mir nichts zurück!« Überrascht versuchte Juan Manuel Argerich seinen Zorn zu dämpfen: »Das mag sein, aber sie ist doch schließlich noch ein Kind!« Der andere, die Augen blutunterlaufen, stieß einen tiefen Seufzer aus: »Nein! Sie mag vielleicht neun Jahre alt sein, aber sie hat die Seele einer Vierzigjährigen.« Nachdem man sie gezwungen hatte, sich in aller Form zu entschuldigen, musste Martha von dem Tag an ihrem Lehrer vor jeder Unterrichtsstunde die Hand schütteln. Natürlich suchte sie alle möglichen Auswege, um dieser lästigen Pflicht zu entkommen. Anlässlich einer Feier zum Ende des Schuljahres, die bei Scaramuzza stattfand, verbrachte das clevere Mädchen den ganzen Abend damit, ihm in einem gewissen Abstand hinterherzulaufen, nur damit sie ihm nicht unter die Augen treten musste.
    Weil ihr Lehrer mit Kindern nicht besonders gut umgehen konnte, nahm Martha heimlich zusätzliche Unterrichtsstunden bei Carmen Scalcione, die Schülerin und Muse von Scaramuzza war. Eines Abends, nachdem sie in einem Badeort ein Konzert gegeben hatte, war Carmen untröstlich wegen eines Lapsus während einer Chopin-Etüde. Sie schüttete dem Meister ihr Herz aus, der ihr in einem Brief seinen Trost aussprach. Er schrieb, dass einige vertrauenswürdige Menschen ihre Interpretation sehr wohl geschätzt hätten, und versicherte ihr, dieses Missgeschick sei vollkommen bedeutungslos, selbst ein großer Künstler sei vor so etwas nicht gefeit. Mit leichter Hand fuhr er fort, dass wahrscheinlich eine galante Begegnung am Strand schuld daran gewesen sei, dass Chopin kurzfristig in ihren Gedanken eine weniger wichtige Rolle gespielt habe. Und statt sich zu beklagen, solle sie lieber ihre Lungen mit der guten jodhaltigen Luft füllen, um für die nächsten Auftritte gewappnet zu sein …
    Von diesem offensichtlichen Zuneigungsbeweis einmal abgesehen, war Scaramuzza ein wenig empathischer Mensch. Kurz zuvor hatte sich Carmen den kleinen Finger der rechten Hand beim Gärtnern verletzt, aber dennoch wollte sie ihm unbedingt die Chopin-Etüden vorspielen, die sie bis zur Erschöpfung geübt hatte. Kaum hatte sie mit der ersten Etüde begonnen, fing ihr Finger wieder an zu bluten. Verstört drehte sie sich zu ihm um, doch ohne sie anzuschauen und mit kaum hörbarer Stimme befahl er ihr weiterzuspielen. Am Ende war die Tastatur vollkommen blutverschmiert.
    Martha kann sich ebenfalls an fürchterlich anstrengende Stunden erinnern, in denen sie unaufhörlich dieselbe Stelle wiederholen musste: »Noch mal!« – »Ich kann nicht mehr.« – »Fang noch mal von vorne an!« – »Ich sterbe.« – »Dann stirbst du eben!«
    Alles war bei Scaramuzza theatralisch und hochexplosiv. Aber hätte er denn anders gekonnt in diesem Nachkriegsargentinien, das in seiner alles beherrschenden Klavierbesessenheit an
das Italien der Kastraten-Ära, das Russland der zaristischen Ballette oder das China der Roten Laterne erinnerte, inklusive der sich jeweils daraus ergebenden Opfer? Unter den zahllosen
Anekdoten, die über die »Pianomania« des Buenos Aires im Goldenen Zeitalter im Umlauf sind, ist besonders die über das seltsame Schicksal Fausto Zadras zu erwähnen. Der Pianist hatte das Datum seines Todes anhand der Sternenkonstellation berechnet. An besagtem Tag tat er während eines Konzerts, just in dem Nocturne op. 27 Nr. 2 von Chopin, mitten in einem Triller seinen letzten Atemzug.
    Wenige der Erwählten erreichten ihr hochgestecktes Ziel. Selbst Carmen Scalcione, die verehrte Schülerin, zog sich nach einer kurzen Pianistenkarriere ins Unterrichtsfach zurück. Vielleicht übertrug Scaramuzza zusammen mit seinen anderen
Eigenheiten auch sein Lampenfieber auf die Schüler. »Du bist noch nicht bereit, du wirst es nicht schaffen«, ließ er manch einen seiner Schützlinge

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