Martha Argerich
am Vorabend eines Auftritts wissen. Obwohl er sich aus seinem Einfluss hatte lösen können, sollte der argentinische Pianist Antonio de Raco beispielsweise doch sein ganzes Leben lang gegen seine Bühnenangst ankämpfen. Der »argentinische Claudio Arrau« hat nicht nur ein Mal in der Pause das Handtuch geworfen, weil er von seiner Angst innerlich zerfressen wurde. Aber das Publikum, das ihn zutiefst verehrte, nahm es ihm niemals übel. »Er hat noch mit den Spätfolgen von Scaramuzzas Gemeinheiten zu kämpfen«, behaupteten seine aficionados . Martha erinnert sich an das eine Mal, als der Maestro ihr hundert neue Angaben in die Noten schrieb – zwei Tage bevor sie das Stück vor Publikum spielen sollte. Das war derart konfus, dass sie auf der Bühne keine Rücksicht darauf nehmen konnte. Sie fürchtete sich vor seiner Reaktion nach dem Konzert, doch er sagte ihr nur, dass sie richtig gehandelt habe. Talleyrand zufolge lassen sich die Befehle gekrönter Häupter in zwei Kategorien einteilen: in diejenigen, die man unbedingt befolgen muss, weil man sonst bestraft wird, und in die (weniger häufigen), die man auf keinen Fall befolgen sollte, weil man sonst das noch größere Risiko eingeht, eine Enttäuschung auszulösen.
Der gebürtige Italiener Scaramuzza stellte die Kantabilität des Klavierspiels ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Doch wenn man dem argentinischen Pianisten Alberto Neuman (einem Schüler von Michelangeli) glauben will, wurde »in seiner Schule zu wenig auf die Legatokultur geachtet«. Besessen von seinem Streben nach Klarheit und Geschmeidigkeit, verlangte Scaramuzza vor allem ein Maximum an Expressivität für jede Note. Wenn der Ton zu flach war, sagte er: »Das ist wie eine Hose, die auf der Straße rumläuft, ohne dass ein Mensch in ihr steckt.«
Martha Argerich war sich immer bewusst, dass ihr ruppiger Lehrer eine ganz und gar außergewöhnliche Persönlichkeit war und dass sie großes Glück hatte, unter seiner Fuchtel ihr Klavierstudium zu betreiben, auch wenn sie seine Leidenschaft für den Belcanto nie teilte. Ihr Herz schlug mehr für den Rhythmus, für die Polyphonie. »Mir war es peinlich, wenn ich das Gefühl hatte, etwas könnte kitschig klingen.« Trotz ihres jugendlichen Alters war Marthas Musikgeschmack bereits sehr ausgeprägt und sollte sich im Laufe ihres Lebens kaum mehr verändern. Mit sieben Jahren kritzelte sie in ihr Notenheft: »Bach ist der
Vater der Musik. Beethoven der Gott.« Noch heute würde sie diesen Satz unterschreiben.
Zu Hause widmete sie mehrere Stunden täglich dem Klavierspiel. Ihre Mutter achtete peinlich genau darauf, dass sie ihr Pensum einhielt. »Üben, Martha!«, sagte sie ständig. Ein Pianist muss sich nicht nur um Klangfülle, Phrasierung, strukturierte Mehrstimmigkeit bemühen, sondern er hat sich zunächst vor allem auf eine sehr mühselige mechanische Arbeit einzulassen, um sich ein Werk wirklich anzueignen: Hände einzeln, Hände zusammen, mit Noten, ohne Noten, langsam, schnell … Martha hatte die Angewohnheit, Bücher zu lesen, während sie ihre Finger über das Klavier sausen ließ. Manchmal war sie jedoch so von ihrer Lektüre gefesselt, dass ihre Finger verstummten. »Was ist los, Marthita?«, rief ihre Mutter dann vom Wohnzimmer aus. »Ich habe getrickst, wo es nur ging. Viele Kinder machen das«, erinnert sich Martha lächelnd. Um während des Übens lesen zu können, ohne das Misstrauen seiner Eltern zu erregen, zupfte der Geiger Ruggiero Ricci seine Pizzikati mit einem einzigen Finger der linken Hand, damit er in der rechten sein Buch halten konnte. Immerhin hat er es auf diese Weise vermocht, die nötige teuflische Virtuosität für die vierundzwanzig Paganini-Capricen aufzubringen, die er dann im Konzertsaal gab. Cacique erinnert sich, dass seine Schwester mit Bravour völlig fehlerfreie Chopin-Etüden spielte, während sie gleichzeitig, ohne dass die Mutter etwas gemerkt hätte, Oscar Wilde oder Alexandre Dumas las.
Das Klavier beanspruchte so viel Raum in ihrem Leben, dass Martha kaum die Schulbank drückte. Lesen und Rechnen lernte sie bei ihrem Vater. Nur einige wenige Monate verbrachte sie in einer englischen Schule in Buenos Aires, wo sie eine Schuluniform tragen musste. Danach verließ sie das Haus fast gar nicht mehr. Für den Französischunterricht hatte sie einen Privatlehrer, der zu ihr kam. Freundschaften außerhalb der Familie und des Klavierumfelds wurden kaum geschlossen. Zu ihren seltenen Freizeitaktivitäten
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