Martha Argerich
Räumen sich jeden Freitagnachmittag die Crème de la Crème der internationalen Musikszene, die sich auf Durchreise in Buenos Aires befand, ein Stelldichein gab: Arrau, Solomon, Rubinstein … Als die Reihe an ihr mit Spielen war, versteckte sich Martha unter dem Tisch. Daniel Barenboim, noch jünger als sie, hatte die ehrenvolle Aufgabe, sie darunter hervorzuzerren. Im Gegensatz zu ihr hatte das junge Wunderkind, das sich zu einem der bedeutendsten Musiker seiner Zeit entwickeln sollte, keinerlei Scheu, in der Öffentlichkeit zu spielen. Seine beiden Eltern waren Klavierlehrer, sodass er deren Schüler den ganzen Tag bei sich zu Hause ein und aus gehen sah. Erst relativ spät entdeckte er zu seiner großen Verwunderung, dass es auch Menschen gab, die dieses Instrument nicht beherrschten. Bei Ernesto Rosenthal begegnete Daniel Barenboim im Alter von sieben Jahren dem Orchesterchef Sergiu Celibidache, der einen großen Einfluss auf ihn haben sollte, und Igor Markevitch, der ihm schon damals eine Zukunft als Dirigent vorhersagte. Daniels Leben verlief in ganz anderen Bahnen als das von Martha. Er ging in die jüdische Schule, besuchte einen jüdischen Sportverein und übte nicht mehr als eineinhalb Stunden täglich auf seinem Instrument. Musik war für ihn etwas vollkommen Selbstverständliches; er spielte gern vierhändig mit seinem Vater oder irgendwelche Sonaten mit Freunden der Familie. Vor allem liebte er es, vor Publikum in die Tasten zu greifen. Martha ihrerseits, die zwar auch eine begeisterte Musikerin war, fühlte sich ständig dem Druck ihrer Mutter ausgesetzt, die immer wieder zu ihr sagte: »Martha, geh üben!« Vor Publikum zu spielen machte sie furchtbar nervös. Zwei Tage vor einem Konzert legte sie einmal ihre Schuhe mit nassem Papier aus, um sich eine Erkältung zu holen und auf diese Weise dem grausamen Frondienst zu entgehen …
Mit elf Jahren debütierte Martha im Teatro Colón mit Schumanns Klavierkonzert, einem Werk, das so etwas wie ihre musikalische Autobiografie werden sollte. Der Dirigent, zweifellos neidisch auf die Aufmerksamkeit, die sie beim Publikum erregte, bereitete ihr einen unschönen Empfang. »In dem Stück gibt es eine Passage, bei der sich regelmäßig alle Pianisten verhauen. Sieh bloß zu, dass du mir das nicht antust!«, wies er sie schroff in ihre Schranken. Und das bei einem Kind, unmittelbar vor dem Auftritt … Aber Martha war durch Scaramuzza einen rauen Umgangston gewohnt.
Die Pianistin Lyl Tiempo, zwei Jahre jünger als Martha, befand sich an jenem Abend im Zuschauerraum. Sie behauptet heute, es habe ihr Leben verändert, Martha spielen zu hören. Nach dem Konzert ging ihre Mutter, eine Freundin Juanitas, in die Garderobe, um der Heldin des Tages zu gratulieren. Lyl selbst war wie gelähmt bei der Vorstellung, Martha kennenzulernen. Lauter wichtige Persönlichkeiten und Freunde drängelten sich im Flur und auf der Treppe. Doch die Tür zur Solistengarderobe blieb verschlossen. Die Arme vor der Brust verschränkt, eine Zigarette im Mund, die Schultern angriffslustig nach oben gezogen, hatte Juanita sich vor der Tür aufgebaut: »Sie will niemanden sehen.«
Was Marthas damalige musikalische Vorlieben betraf, so war ihr Geschmack sehr heterogen und umfasste nicht nur Klavierstücke. Webers Aufforderung zum Tanz in der Orchestrierung von Berlioz zählt zu den ersten Werken, für die sie sich begeisterte. Das Violinkonzert Nr. 1 von Paganini gehört ebenfalls dazu. Die Faszination für Paganini hat sie ihr ganzes Leben lang begleitet – seine Kühnheit, seine grenzenlose Virtuosität, die ihn das Unmögliche versuchen ließ, den ungeheuren Einfluss, den er auf Schumann, Liszt, Berlioz sowie Brahms oder Rachmaninow ausübte … So wie diese Künstler spürte auch Martha stets, dass Paganinis Kunst kein bloßes musikalisches Feuerwerk ist, sondern vor allem ein Weg hin zur Transzendenz, damit der Interpret bereit ist, alles zu geben und ohne Netz den freien Fall zu wagen. Von Nijinski stammt einer ihrer Lieblingssätze. Der Tänzer, der für seine schier unendlich wirkenden Sprünge gefeiert wurde, erwiderte auf das Kompliment: »Das ist ganz einfach, man muss nur ein bisschen länger in der Luft bleiben.«
Mit zehn Jahren waren ihre bevorzugten Stücke das Konzert für Violine Nr. 1 D-Dur von Prokofjew und Ravels Daphnis und Chloé . Zwei Meisterwerke von zwei Komponisten, die noch heute zu ihren Favoriten zählen. Mehr als die Oper war das Ballett eine ihrer großen
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