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Martha Argerich

Martha Argerich

Titel: Martha Argerich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bellamy
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gehörte der Besuch eines Schwimmkurses. Der Schwimmlehrer fand, sie hätte das Zeug zu einer erfolgreichen Wettkämpferin. Was nicht weiter erstaunlich ist: »Ein Pianist«, sagte der Klavierpädagoge Cortot, »braucht vor allem eine gute Kondition.«
    Zu den größten Freuden der kleinen Martha zählten die Besuche des Kinos El Botánico, in das sie zusammen mit ihrer Tante Aïda ging. Weil die Tante jedes Mal vom Schlaf übermannt wurde, kam es vor, dass Martha zwei, drei Filme hintereinander anschauen konnte. Wegen der Hitze entledigte sie sich im Dunkel des Kinosaals all ihrer Kleider. Womöglich zehrt sie heute noch von jenen wonnevollen Erinnerungen, wenn sie es mit solch sinnlicher Musik wie der Ravels zu tun hat. »Ihr Spiel ist eine Mischung aus Erotik und Mystizismus«, schrieb einst ein Kritiker über sie.
    Mit der Mystik kam sie im Alter von zehn Jahren in Berührung, als sie zum ersten Mal eine Kirche betrat. Ohne von ihren jüdischen Wurzeln zu wissen, wollte sie unbedingt getauft werden. Ihr erstes Abendmahl erlebte sie noch voller Inbrunst, doch nachdem sie mit den strengen Dogmen der katholischen Kirche in Berührung gekommen war, wollte sie an der Eucharistiefeier nicht mehr teilnehmen. Sie ging zwar weiterhin in Kirchen, aber eben nicht mehr zur Messe. Die spirituelle Kraft der Martha Argerich ist eher in ihrem Spiel als in ihrem Leben wahrzunehmen. Ihre Bibelkenntnis resultiert vor allem aus Büchern, die ihre Fantasie beflügelt haben. So etwa der Roman Quo vadis? , der vom Schicksal und von den Martyrien der ersten Christen erzählt. Die Leiden der schwarzen Sklaven in Onkel Toms Hütte und das Unglück Oliver Twists im England des Charles Dickens prägten hingegen ihre humanistischen Überzeugungen, die sich wiederum mit ihrem Sinn für Religiosität verbanden.
    Im Alter von sieben Jahren gab sie ihr erstes richtiges Konzert im Teatro San Martín: das Klavierkonzert Nr. 20 d-Moll von Mozart, das Klavierkonzert Nr. 1 C-Dur von Beethoven und die Englische Suite Nr. 3 g-Moll von Bach als Zwischenstück. Der Druck, unter dem die kleine Martha stand, war enorm. Am Morgen des Konzerts beschwor sie sich im Badezimmer auf Knien selbst: »Wenn du eine einzige falsche Note spielst, stirbst du auf der Stelle!« Die Bedrohung durch die Strafe ließ sie wieder heiter werden. Doch als der Moment, in dem sie auf die Bühne treten sollte, näher rückte, fing ihre Nase an zu laufen, ihre Finger wurden eiskalt, ihre Zähne klapperten wie Kastagnetten. Sie rieb ihre Hände gegeneinander, um sie zu wärmen, und nahm ein heißes Fußbad, als ihre Knie zu zittern begannen. Mit tränenverschleiertem Blick zwang sie sich, mit den Füßen auf dem Boden aufzustampfen, um ihre Durchblutung anzukurbeln und ihre Nerven unter Kontrolle zu bekommen, woraufhin ihr die Beine gänzlich den Dienst versagten. Scaramuzza, der das Orchester leitete, schob sie energisch auf die Bühne. Wie ein Automat steuerte sie ihren kleinen Körper an den Streichern vorbei zu dem Klavier, das auf sie wartete. Den stürmischen Applaus des Pu-
blikums nahm sie gar nicht wahr. Doch kaum hatte sie die ersten Noten des Mozart-Konzerts gespielt, waren ihre Ängste verflogen, und sie dachte nur noch an die Musik. Ihre beste Freundin Elenita, deren goldblondes Haar Martha so gern berührte, saß in der ersten Reihe und sprach mit ihr während des Orchestervorspiels, als wären sie ganz unter sich. Die vertraute Stimme verlieh ihr Zuversicht. Noch heute hat sie die Angewohnheit, auf der Bühne zwischen den Sätzen mit der- oder demjenigen zu sprechen, der ihr die Noten umblättert, oder aber mit ihren Partnern. Am Ende des tutti gab sie Elenita ein Zeichen, mit dem Reden aufzuhören, und fing an zu spielen … Das Konzert versetzte das Publikum in einen wahrhaften Rausch. Als er sie zum zweiten Mal das Klavierkonzert Nr. 20 d-Moll von Mozart spielen hörte, diesmal in einer Liveübertragung des Radiosenders El Mundo unter Alberto Castellanos (sie war inzwischen neun Jahre alt!), machte Vincenzo Scaramuzza ihr das schönste Kompliment ihres Lebens: »Gestern war ich sehr erschöpft, weil ich den ganzen Tag nur Schwachköpfe unterrichten musste. Dann habe ich dein d-Moll-Konzert im Radio gehört – und war beinah glücklich.« In diesem »beinah« ist für Martha rückblickend der ganze Scaramuzza enthalten.
    Ihre Mutter pflegte sie in die Calle Talcahuano 1257 zu Ernesto Rosenthal mitzunehmen, einem reichen Juden österreichischer Herkunft, in dessen

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