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Martha Argerich

Martha Argerich

Titel: Martha Argerich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bellamy
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Leidenschaften. Im Teatro Colón vermochten es zwei Choreografien, sie nachhaltig zu beeindrucken: Der Zauberlehrling nach Paul Dukas und das Capriccio espagnol auf die Musik von Rimski-Korsakow. Juanita hatte sehr wohl den Versuch unternommen, sie im Alter von sechs, sieben Jahren beim Ballettunterricht anzumelden, doch Martha missfielen auf Anhieb die erzwungene Disziplin und der Geist, den die Schule atmete. Trotzdem liebt sie den klassischen Tanz bis heute. Die Romeo-und-Julia -Choreografie auf die Musik Prokofjews von Rudolf Nurejew und Margot Fonteyn, ihren großen Idolen, kannte sie nahezu auswendig. Sie war eine glühende Bewunderin von Michael Jacksons Moonwalk und kann sich noch heute für Flamenco begeistern. Vor allem, wenn er vom großen Farruquito getanzt wird, dem Zigeunerkönig und Schreckenskind Andalu-
siens.
    Juanita nahm Martha regelmäßig mit ins Teatro Colón, jenen mythenumwobenen Konzertsaal, in dem Caruso, Toscanini und die Callas auftraten und dessen Akustik mit die beste von allen Konzertsälen rund um den Globus ist. Nach dem Krieg war die Atmosphäre, in der diese Konzerte gegeben wurden, von einer ganz besonderen Stimmung geprägt, denn Buenos Aires als Sitz einer der größten jüdischen Gemeinden weltweit war zugleich Fluchtburg für zahlreiche Nazichargen. Nicht selten wurden Witze über diese beiden Gruppen gemacht, die sich, auf nahezu makabere Weise in ihrer Liebe zur Musik vereint, jeden Abend im Teatro Colón wiedertrafen.
    Die Veranstaltungen begannen spät, um 21 Uhr 30, und dauerten wegen der beiden Pausen meist bis Mitternacht an. Für die kleine Martha war das zu lang, sodass sie oft auf ihrem Sitz einschlief. Ein Abend im Jahr 1947 – da war sie gerade einmal sechs Jahre alt – bescherte ihr eines der wichtigsten Ereignisse ihres Lebens. Der chilenische Pianist Claudio Arrau spielte das Konzert Nr. 4 G-Dur von Beethoven. Schon bei den ersten Noten fühlte sich das kleine Mädchen wie von einem neuen, unbekannten Licht durchdrungen. Der sublime langsame Satz, in dem sich Klavier und Orchester nach vorausgegangenem Affront in einem unendlich langen Triller vereinen, elektrisierte sie bis in die Haarspitzen. Nie wollte sie dieses Konzert vor Pu-
blikum spielen, das in ihr einen musikalischen Schock von fast traumatischen Ausmaßen ausgelöst hatte. Wilhelm Furtwäng-
ler war von ähnlichen Empfindungen gegenüber Beethovens Missa Solemnis geprägt, die zu dirigieren er sich außerstande sah – er, der große Deuter des deutschen Musikerbes! »Wahrscheinlich ist das einfach eine Nummer zu groß«, so Martha Argerichs Versuch einer Erklärung, »so, als würde ich auf die Bühne gehen, um zu sterben.« Vergeblich wollten Claudio Abbado und Charles Dutoit sie dazu bringen, das Konzert öffentlich zu spielen. Vor nicht allzu langer Zeit schien der zunehmend auch als Dirigent tätige Pianist Stephen Kovacevich es geschafft zu haben, sie im japanischen Beppu zu diesem Schritt zu überreden, doch im letzten Moment zog sich Martha wieder einmal zurück. Genauso geht es ihr mit Menschen, die sie tief berühren. Nie hätte sie es gewagt, mit Marlon Brando ein paar Sätze zu wechseln, ihrem Lieblingsschauspieler. Und als sie einmal durch Zufall Gérard Depardieu begegnete, dessen außergewöhnliche Stimme sie schon immer fasziniert hatte, suchte sie gleich nach einem Ort, an dem sie sich verstecken konnte. Vielleicht ist das der Grund, warum die meisten Männer, die sie geliebt hat, zunächst Freunde von ihr waren und warum die Stücke, die sie am häufigsten spielt, nicht notwendigerweise diejenigen sind, die ihr am meisten am Herzen liegen. Am ehesten lässt sich ihr Verhalten wohl mit dem von Maria Callas vergleichen, deren Paraderolle die Tosca war, obwohl sie weder Puccini noch dessen Œuvre besonders schätzte.
    Martha besuchte auch zusammen mit Bruno Leonardo Gelber Konzerte. Dessen Vater, der im Orchester des Teatro Colón spielte, setzte die beiden Kinder an den Rand des Orchestergrabens, mit der Auflage, sich anständig zu benehmen. Doch kaum verspielte sich einer der Musiker auch nur um eine halbe Note, stießen sich die beiden gegenseitig kichernd die Ellbogen in die Rippen. Bis einer der Abonnenten aus der ersten Reihe ihnen sanft mit dem Programmheft auf den Kopf schlug und dabei bemerkte: »Tss, tss, tss – dass diese Kinder aber auch gar nichts von Musik verstehen!«
    Das Musikleben im Buenos Aires jener Zeit war außerordentlich vielfältig. Die berühmtesten

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