Martha Argerich
auf, um mehr Zeit fürs Komponieren zu haben. Martha liebt vor allem seine Prelude and Fugue und sein Konzert für Violoncello und Blasorchester , das Gautier Capuçon auf den Musikfestivals von Lugano und La Roque d’Anthéron spielte. »Gulda war Musiker vom Scheitel bis zur Sohle«, begeistert sich Martha. Der Beruf des Konzertpianisten war für ihn nichts Besonderes, denn in seinen Augen brauchte es dazu lediglich »etwas Talent, etwas Fleiß und viel Eitelkeit«. Als Komponist war er noch weniger von sich eingenommen. Er sagte zu Martha: »Die klassische Musik braucht keine herausragenden Interpreten. Aber meine Musik schon, sonst klingt sie nämlich ziemlich sch…«
Martha hat ein paarmal in ihrem Leben versucht, ihr Tätigkeitsfeld zu erweitern. So schrieb sie etwa in Wien zusammen mit Karin Merle ein surrealistisches Theaterstück; die beiden jungen Mädchen schwärmten damals für diese Art von Texten. Ihre Träume – immer in Farbe, behauptet Martha – tragen bis heute surrealistische Züge und scheinen direkt aus Buñuel-Filmen entsprungen zu sein: Einmal wollte sie einen Koch daran hindern, den auf einem Teller liegenden, in Teig gehüllten und mit Tomatensauce begossenen Körper von Stephen Kovacevich in den Ofen zu schieben. Ein andermal wollte sie sich nach dem Baden die Haare trocknen, als ein sämiges Erbsenpüree aus dem Fön herausquoll. Ihre musikalischen Alpträume sind ebenfalls häufig an der Zahl: Sie sitzt vor dem Klavier und weiß nicht mehr, was sie spielen soll, das Publikum protestiert, und die Polizei kommt auf die Bühne …
Die Zeit in Wien war nur von guten Momenten bestimmt. Manchmal ging Gulda für mehrere Wochen auf Tournee und ließ sie allein zurück. Dann nahm sie Zuflucht in der Klasse von Bruno Seidlhofer, Guldas Lehrer, der an der Wiener Musik-
akademie unterrichtete. Obwohl Theorie nie ihre Stärke war, besuchte sie auch Kurse in Kontrapunkt und Werkanalyse. In Buenos Aires war sie in Harmonielehre bereits von einem gewissen Theodore Fuchs unterrichtet worden. Auch zum Chor ging sie in Wien: Sie erinnert sich noch heute an die Chöre aus Carmen , die sie gesungen hat. Beeindruckt von Daniel Barenboims Werdegang, der in diesen Jahren schon eine kleine Berühmtheit war, schrieb Juanita sie im Dirigierkurs von Hans Swarowsky ein, dem Lehrer Claudio Abbados und Zubin Mehtas. Eine nicht sehr nachhaltige Erfahrung. Sie war das einzige Mädchen im Kurs und sah sich keineswegs in der Rolle eines Leithammels. Noch dazu verlangte Swarowsky von ihr, dass sie ihm die Hand küsste, was sie aus tiefstem Herzen verabscheute.
Für eine frisch aus Südamerika gekommene vierzehnjährige Musikerin war Wien eine fantastische Erfahrung – die Stadt, in der Mozart, Schubert, Beethoven ihre größten Meisterwerke geschrieben hatten! 1955 war Wien noch von den Alliierten besetzt, wodurch die Atmosphäre besonders kosmopolitisch und fast schon romanhaft war.
Martha Argerich begann ein ziemlich unstetes Leben zu führen. Mit dem Eintritt in die Pubertät befreite sie sich zunehmend aus dem engen Korsett aus Disziplin und Strenge, in dem sie seit ihrer Kindheit steckte. Sie kam zu spät zum Unterricht, übte weniger. Über einen Monat lang war sie kaum mit Schuberts Sonate a-Moll D 845 vorangekommen, als Gulda ausrief: »Ich dachte, du bist begabt, Argerich! Aber vielleicht habe ich mich getäuscht …« Um sie auf die Probe zu stellen, gab der Österreicher ihr zwei besonders schwierige Stücke zu lernen auf, die sie innerhalb von vier Tagen beherrschen sollte: Ravels Gaspard de la Nuit und Schumanns Abegg-Variationen . »Ich wollte nicht, dass er mich für eine Null hält«, so Martha rückblickend. In der nächsten Klavierstunde kannte sie die beiden Stücke nicht nur auswendig, sondern ihre Interpretation war schlichtweg umwerfend schlüssig. »Es ist mir nicht sehr schwergefallen.« Jahre später sollte ihre Plattenaufnahme von Gaspard de la Nuit , die jede Menge Preise und Auszeichnungen erhielt, ihre enge Beziehung zu Ravel einmal mehr vertiefen.
In seinem Buch Mein ganzes Leben ist ein Skandal schrieb Gulda, dass er die Idee der Tradition aus Prinzip negiere und dass ihn das Unterrichten immer gelangweilt habe. Doch er machte eine Ausnahme: »Einmal, muß ich zugeben – irgendwann in den fünfziger Jahren –, war ich auch gerne Lehrer«*: bei Martha Argerich. Wohlgemerkt, er sprach von ihr nicht wie von einer Schülerin, sondern wie von jemandem, mit dem ihn eine wahre
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