Martha Argerich
Äußerung des Dirigenten Ernest Ansermet, der einmal sagte: »Lipatti spielte wie ein Engel und benahm sich wie ein Heiliger.« Dieser großartige Interpret von Bach, Mozart und Chopin hatte seine letzten Kräfte versammelt, um sich von der Welt mit dem Choral »Jesus bleibet meine Freude«* auf dem Festival von Besançon zu verabschieden und dann im selben Alter wie Jesus zu sterben.
* Choral aus der Kantate BWV 147 von Johann Sebastian Bach, arrangiert für Klavier von Myra Hess.
Seit sie Martha erstmals hatte spielen hören, war Madeleine Lipatti von ihrem Talent überzeugt. Mehrere Monate versuchte sie, diese so überbordende Energie zu kanalisieren. Martha mochte sie sehr. Mit einigen Briefen gelang es Madeleine, ein Stipendium für die argentinische Pianistin zu organisieren, das ihr erlaubte, vorerst in Europa zu bleiben. Sie wollte sie Walter Legge vorstellen, dem legendären EMI -Produzenten, der die Karrieren von Karajan und der Callas angeschoben hatte und dem die letzten Aufnahmen von Lipatti zu verdanken waren. Aber wenn man sie jemandem vorstellen wollte, zog sich Martha sofort in ihr Schneckenhaus zurück. »Das ist nicht natürlich«, lautete ihre Erklärung.
Neugierig geworden, kam Nikita Magaloff, um sie zu hören. Dieser wunderbare Chopin-Interpret aus Sankt Petersburg, der damals vierundvierzig Jahre alt war, hatte 1929 unter den begeisterten Ermutigungen Maurice Ravels sein Studium am Pariser Konservatorium mit Auszeichnung abgeschlossen. Der Schüler Prokofjews und Freund Strawinskys hatte die Tochter des großen ungarischen Geigers Joseph Szigeti geheiratet.
Martha spielte ihm die Sonate Nr. 3 h-Moll von Chopin vor, und Magaloff war fasziniert von ihrem Einfühlungsvermögen in den so charakteristischen wie subtilen Stil des polnischen Komponisten. Er war sofort hingerissen von ihrem Spiel und ihren schier unendlich scheinenden Ausdrucksmöglichkeiten. Das Einzige, was er ihr vorhielt, war ihre Neigung, zu schnell zu spielen. »Habe ich heute wie ein durchgedrehtes Pferd oder wie ein kleines Ferkel gespielt?«, pflegte sie Freunde, die ihr zugehört hatten, zu fragen, denn dieser Hang war ihr durchaus bewusst. Magaloffs distinguierte Art, seine Kultur und Eleganz begeisterten das junge Mädchen. Während die ganze Welt Marthas Lächeln mit dem der Mona Lisa verglich, sah er in ihrem Gesicht Ähnlichkeit mit dem des Heiligen Johannes des Täufers, dem anderen rätselhaften und vielschichtigen Helden Leonardo da Vincis. Stets dankbar, wenn jemand ihr mit der gebotenen Sen-
sibilität begegnete, fühlte sich die Pianistin von dem Älteren sofort verstanden. Außerdem war Johannes der Lieblingsapostel von Jesus; ihn hat der Maler im Letzten Abendmahl an seine Rechte gesetzt.
Nikita Magaloff hatte die Fähigkeiten eines Wahrsagers, er vermochte in die Zukunft zu blicken. Während einer Kreuzfahrt wurde er einmal von einer solchen Vorahnung ergriffen und sagte zu seiner Frau: »Irene, wir müssen dem Kapitän Bescheid sagen …« Am selben Abend, ohne dass irgendetwas darauf hingedeutet hätte, ging ein fürchterliches Gewitter über dem Schiff nieder, das den Untergang eines anderen Schiffes nur wenige Seemeilen entfernt zur Folge hatte.
Martha liebte seine exzentrische Art, sich auszudrücken. Kaum ein Abend mit ihr, an dem sie nicht irgendeine Anekdote über ihn erzählt und mit liebevollem Spott seine sprachlichen Arabesken imitiert. Denn wie Chopin besitzt sie ein echtes Talent, andere Leute zu imitieren.
Magaloff wurde ihr Lehrer, ohne dass dies jemals formal bestätigt wurde. Martha besuchte ihn und spielte, wenn ihr danach war. Manchmal blieb sie anschließend noch länger in der Schule. Es kam vor, dass der Maestro, wenn er versuchte, einem Schüler zu erklären, wie er eine bestimmte in Oktaven geführte Passage zu spielen hätte, am Ende erschöpft ausrief: »Ja, aber da ist noch etwas anderes … Martha, kannst du mal kommen?« Die Oktaven waren immer Marthas Geheimwaffe. »Eine Spezialität des Hauses«, sagt sie dazu. Wenn es der Pianistin nicht nach Unterricht zumute war und sie entweder in irgendwelchen Cafés auf der Terrasse herumsaß oder sich zu Hause im Bett lümmelte, schien er vor Langeweile zu vergehen und erst dann wieder aufzublühen, wenn sie endlich auftauchte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sind viele große Pianisten, die sich in die Schweiz abgesetzt hatten, dort geblieben. Neben Dinu Lipatti in Genf und Clara Haskil in Vevey zählte Wilhelm Backhaus zu den
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