Martha Argerich
Ehrenbürgern der Schweiz. Der große Beethoven-Interpret hatte sich in Lugano niedergelassen, wo später auch Michelangeli auf der Flucht vor den italienischen Steuerfahndern landete. Horowitz und Rachmaninow lebten zeitweise in der Nähe von Luzern. Ihr Geist scheint immer noch über den Steilufern des Vierwaldstätter Sees zu schweben. Der gebürtige Basler Edwin Fischer wohnte in Zürich. Nicht zu vergessen Youra Guller, Abbey Simon (bei dem Martha auch ein paar Unterrichtsstunden nahm) und natürlich Nikita Magaloff im Welschland. Martha und Nikita sprachen viel über Musik miteinander. Sie verehrten dieselben Künstler: Horowitz, Gieseking … Magaloff wollte ihr unbedingt Clara Haskil vorstellen, die er sehr schätzte und von der Charlie Chaplin* behauptete, sie sei eines der drei Genies, denen zu begegnen er im Laufe seines Lebens das Glück gehabt habe – die beiden anderen waren Einstein und Churchill.
* Der Autor, Produzent, Regisseur, Komponist und Hauptdarsteller von Moderne Zeiten lebte ebenfalls in Vevey und hatte sich einen Steinway gekauft, »damit Clara ein gutes Klavier zur Verfügung hat, wenn sie vorbeikommt«.
Eines Tages holte Nikita Martha mit dem Auto ab, um mit ihr den geplanten Besuch bei Clara Haskil zu machen, die zusammen mit ihrer Schwester Lili in einer kleinen Wohnung am Quai Perdonnet direkt am Genfer See lebte. Die rumänische Pianistin erholte sich zu dem Zeitpunkt von einer schweren Krankheit, zu der sich noch eine schmerzhafte Skoliose gesellt hatte. Magaloff hatte Martha, die Kettenraucherin war und sich gerade erst ein Loch ins Kleid gebrannt hatte, befohlen, während des Zusammentreffens nicht zu rauchen. »Es geht ihr sehr schlecht, verstehst du?« Clara Haskil hatte einen Tee für ihre Besucher zubereitet. Martha war tief bewegt von der Begegnung. Irgendwann bat die Gastgeberin ihre junge Kollegin, sich ans Klavier zu setzen, und zeigte auf den Konzertflügel, einen Steinway, den ersten in ihrer ganzen Karriere, den sie sich im Alter von knapp sechzig Jahren endlich hatte leisten können. »Ich möchte lieber nicht spielen«, sagte Martha nervös. »Ich fürchte, Sie zu langweilen.« Am Ende, nachdem die Ältere sie nochmals gebeten hatte, spielte sie dann doch. Haskil hörte ihr aufmerksam zu und sagte ihr schließlich in vorwurfsvollem Ton: »Wenn ich deine Möglichkeiten hätte, säße ich den ganzen Tag am Klavier!« Diese Bemerkung ist bezeichnend für den Unterschied zwischen den beiden Künstlerinnen. Martha Argerich ist geradezu verwöhnt, was ihr Klavierspiel anbelangt: Sie verfügt über enorme Fähigkeiten und hat sich sehr früh einen Namen machen können. Clara Haskil hingegen musste fünfundfünzig Jahre alt werden, bis man ihr in Paris endlich den Triumph gönnte, der ihrem Talent angemessen war. Nur in der Schweiz hatte man schon vorher ihre Bedeutung erkannt, nicht zuletzt dank der Bemühungen ihres guten Freundes und Landsmannes Dinu Lipatti, der wegen seiner häufigen Krankheiten zahlreiche Konzerte absagen musste und den Veranstaltern als Ersatz stets seine liebe »Clarinette« empfahl.
In den Fünfzigerjahren spielte Clara Haskil die Klavierkonzerte von Wolfgang Amadeus Mozart mit einer unglaublichen Grazie und zeigte sich unübertroffen in ihrer Interpretation et-
wa der Sonate Nr. 18 Es-Dur von Beethoven, der Waldszenen von Schumann oder der Variationen für Klavier von Wolfgang Amadeus Mozart zu dem französischen Kinderlied »Ah! Vous dirai-je, Maman!«. 1956 feierte sie erste Triumphe in den USA , und ein Bostoner Kritiker schrieb, sie habe zusammen mit Charles Munch die schönste Darbietung von Beethovens Klavierkonzert Nr. 3 geliefert, die er je gehört hätte. Die zweite Clara in der Musikgeschichte hatte auch das Klavierkonzert a-Moll op. 54 von Schumann mit ihrer persönlichen Prägung versehen, bevor Martha sich als die Idealbesetzung für dieses Werk etablieren sollte. Martha verehrt vor allem ihre Einspielung der Sonaten für Klavier und Violine von Mozart, die Clara Haskil zusammen mit dem belgischen Geiger Arthur Grumiaux aufgenommen hatte. Sie war tief beeindruckt zu erfahren, dass die Rumänin das Streichinstrument selbst ebenfalls sehr gut beherrschte. Auf der Geige hatte sie sogar den ersten Preis bei einem Wettbewerb gewonnen, bevor sie sich auch auf dem Klavier ihre erste Auszeichnung holte. Häufig tauschten Grumiaux und Haskil ihre Instrumente aus, wenn sie allein für sich spielten. Das Geigespielen zählt zu den geheimen
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