Martha Argerich
Sorgen wegen ihrer Absagen. Auch Nikita Magaloff, der ihr näherstand, las ihr freundlich die Leviten.
Als sie 1960 nach einem Konzert, das sie als eine besondere Anstrengung empfunden hatte, eine ganze Tournee absagen wollte, schickte die Konzertdirektion Winderstein Reinhard Paulsen zu ihr, der sie wieder zur Vernunft bringen sollte. Sie ging nicht mehr ans Telefon, obwohl sie doch bekannt dafür war, ganze Nächte an dem Apparat zu verbringen, um von ihren Sorgen und Nöten zu berichten. Martha hatte ein gutes Verhältnis zu Paulsen, der ihr Exklusivagent werden sollte. Er schlug ihr gemäßigtere Konditionen und einen Terminplan vor, der ihrer Persönlichkeit mehr entsprach, um zu verhindern, dass sie »eine Dummheit« beging.
Das Treffen fand in einem skandinavischen Restaurant in Bern statt. Die Pianinstin war in Begleitung von Nelson Freire und Martín Tiempo gekommen. Paulsen war in seiner Argumentation sehr überzeugend und zuvorkommend. »Ein Wassermann«, lautet Marthas Kommentar dazu. Er war weniger Geschäftsmann als ein großer Musikliebhaber, der seine Leidenschaft auslebte. Was Martha wiederum sehr gefiel. »Viele Künstler konnten überhaupt nichts mit ihm anfangen. Aber für mich war er perfekt.« Paulsen hatte Geschmack und Stil. Er hatte unter anderem Gidon Kremer entdeckt. Sein großer Traum war es, eines Tages Kremer, Maisky und Martha im Trio zu hören, doch dieser Traum sollte sich zu seinen Lebzeiten nicht mehr erfüllen. Die drei Freunde spielten erstmals 1998 zusammen, nach seinem Tod, um ihm ihre Reverenz zu erweisen.
Reinhard Paulsens Familie gehörte der deutschsprachigen Minderheit an, die im Baltikum lebte. Er hatte ein weises Lebensmotto: »Immer zu den Künstlern halten, nie zu den Organisatoren!« Er war ein Impresario der alten Art, elegant, liebevoll und kultiviert. Philosophisch veranlagt, wie er war, sagte er immer: »Was zwischen acht und zehn Uhr abends passiert, das steht nicht mehr in unserer Macht.« Er mochte keine Cellisten und erzählte jedem, der es hören wollte, dass er auch ohne sie auskomme. In finanzieller Hinsicht widerstrebte es ihm zutiefst, die Höhe der Gagen dem Marktgesetz von Angebot und Nachfrage anzupassen. »Wenn man mehr verlangt, wenn es gut läuft, riskiert man, weniger zu kriegen, wenn es schlecht läuft«, war seine Überzeugung. Später bewog Rostropowitsch Martha dazu, ihre Preise trotzdem anzuheben: »Willst du so viel verdienen wie ein Pollini-Schüler?« Er selbst legte ihre Gagen für
Europa und die USA fest. Paulsen gab klein bei, die Preiserhöhung wurde akzeptiert, und die Gagen sind nie geschmälert worden.
»Ein guter Konzertagent zu sein ist eine echte Herausforderung«, sagt Martha. Sie ist der festen Ansicht, dass sie diese Aufgabe selbst hätte erfüllen können. »Ich habe ein gutes Erinnerungsvermögen, ich weiß, was der oder die gespielt hat, was er spielen sollte, was er spielen kann … In Japan habe ich einmal innerhalb von zehn Minuten alles mit den Künstlern geregelt, während die Agenten die Dinge nur verkompliziert haben.« Was sie vergisst hinzuzufügen: Wenn es ein zweites Mal gegeben hätte, wäre sie in ihren Bemühungen, es allen recht zu machen und niemanden vor den Kopf zu stoßen, zwischen den Fronten wahrscheinlich total aufgerieben worden.
Zu Anfang der Sechzigerjahre war ihr Repertoire bereits ziemlich umfangreich, doch sie spielte in der Regel nur die Werke, die sie entweder mit Gulda einstudiert oder für die Wettbewerbe in Bozen und Genf vorbereitet hatte. Martín Tiempo hatte sie auf diese Tatsache aufmerksam gemacht, was ein solches Erstaunen bei ihr auslöste, als hätte er das Geheimnis der Inkas gelüftet. Sie behauptete, nicht genug Zeit zu haben, um neue Stücke einzustudieren. Doch sie nutzte ihre Mußestunden auch nicht dazu, ihr Repertoire zu vergrößern.
Während der ganzen Zeit ihres Zusammenlebens hat Martín Tiempo Martha nicht ein einziges Mal üben hören. Als kostete es sie keinerlei Mühe, perfekt zu sein! Sobald sie sich ans Klavier setzte, wurden ihre Hände von einem Bewegungsimpuls ergriffen und fingen wie von selbst an zu spielen. Auf der Bühne hatte sie nie einen Blackout. Oder doch: ein einziges Mal, nach einem halben Jahrhundert Pianistenkarriere, beim Klavierkonzert Nr. 3 von Prokofjew, »ihrem« Konzert! Es handelte sich nicht um einen echten Blackout, sondern nur um eine leichte Erinnerungslücke, ein kurzes Zaudern, doch sie war völlig schockiert. An dem Abend schloss
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