Martha Argerich
ein
Recital von Arthur Rubinstein im Teatro Colón und ein Auftritt David Oistrachs mit Brahms’ Violinkonzert bei einer Freiluftveranstaltung in Buenos Aires, bei der auch Martha zugegen war. Er stellte ihr jede Menge naiver Fragen, die sie zum Lachen brachten: »Hast du nicht manchmal die Nase voll davon, jeden
Tag dieselben Stücke zu üben?« Er erinnerte Martha an einen ihrer Wiener Freunde, einen wahren Literaturfreak, der ihr immer wieder gesagt hatte: »Lass die Musik bleiben, das ist eine niedere Kunst. Schreib lieber Gedichte!« Innerhalb von kürzester Zeit war Martín Tiempo bis über beide Ohren verliebt. »Es musste so kommen: Sie war hübsch, sehr natürlich, extrem talentiert. Nur mit der Gegenseitigkeit gab es ein Problem, denn Martha hielt nicht viel von Exklusivbeziehungen.«
Die Wohnung bestand aus einem Wohnzimmer, einem Esszimmer und einem weiteren Raum. Für ein ausgeglichenes ruhiges Paar die perfekte Umgebung, aber mit Martha war so etwas nicht zu machen. Eines Tages, als sie aus Deutschland zurückkam, verkündete sie strahlend: »Ich habe einen brasilianischen Freund wiedergetroffen – meinst du, er kann bei uns wohnen?« Es handelte sich um niemand anderen als um Nelson Freire, der sich sogleich mit Sack und Pack in der Wohnung niederließ. Mit der Zeit sollte die Zahl der Untermieter noch mehr steigen. Martha hatte eben ein großes Herz für ausgefallene Menschen, die sich in irgendwelchen Schwierigkeiten befanden: eine gewisse Christine mit pianistischem Hintergrund, die argentinische Geigerin und Komponistentochter Brunhilda Ianneo, der rumänische Geiger Sergio Burcas, der wunderbare Zigeunergeiger Yosha Sivo … Abends wurden Streichhölzer gezogen, um zu losen, wer im Bett schlafen durfte und wer mit dem Fußboden vorliebnehmen musste.
Zu jener Zeit war Martha schon mehr daran interessiert, sich für andere Menschen zu engagieren, als sich um die eigene Karriere zu kümmern. So sagte sie beispielsweise einen Konzerttermin ab, um Yosha Sivo beim Paganini-Wettbewerb in Genua am Klavier zu begleiten. Und einen weiteren, um bei Brunhilda Ianneos Auftritt bei einem Wettbewerb in München die zweite Stimme zu spielen. Die Pianistin liebte es, die verborgenen Talente ihrer Freunde aufzuspüren. Sie erfand in dem Zusammenhang das Wort »Talentitis«, was so viel bedeutet wie »die Krankheit, Talent zu besitzen«. Wenn jemand partout kein Talent besaß, entdeckte sie dennoch irgendwelche Symptome dafür oder dachte sich einfach welche aus. Am Ende glaubten die Betroffenen selbst daran, nur um ihr einen Gefallen zu tun. Manche entwickelten sogar extra irgendwelche Begabungen, um sie nicht zu brüskieren. Für Martha lag der Vorteil darin, dass sie sich nicht mehr im Mittelpunkt ihrer Clique fühlen musste. »Ich unternehme gerne Dinge in einer Gruppe, aber ich bin keine Führungspersönlichkeit.« Sie wollte sich in dem Glauben wiegen, dass die Fähigkeit des einen Freundes, Auto zu fahren, oder die des anderen, Spaghetti zu kochen, ihrem eigenen Talent ebenbürtig wäre, das eine solche Belastung für sie darstellte. In ihrem tiefsten Inneren wusste sie natürlich, dass dem nicht so war. Aber war vor Gott nicht alles gleichermaßen von Bedeutung, solange man nur seine »Talente« nutzte? Auch Martín Tiempo sah sich dem Virus der »Talentitis« ausgesetzt, weil er ganz gut zeichnen und Karikaturen erstellen konnte. Ivo Pogorelich versuchte Martha später davon zu überzeugen, dass jemand mit einem großen, deutlich erkennbaren Talent in Wirklichkeit jede Menge Talente besitze, aber dass jenes eine die anderen überdecke. Diese Aussage verstörte sie zutiefst. Ein Künstler, der seit seinem dritten Lebensjahr Klavier spielt, hat er überhaupt die Chance, jemals etwas anderes zu tun?
Der Umgang mit Martín Tiempo ließ ihre noch gar nicht so alte Leidenschaft für den Jazz wieder aufblühen. Der junge Mann gab sein ganzes Gehalt für Jazzplatten aus: Erroll Garner,
Charlie Parker … Sie verbrachten lange Nächte mit Musik-
hören. Martín eröffnete ihr die Welt der Ella Fitzgerald, der
Sarah Vaughan. Und Martha brachte ihm die Kunst eines Horowitz oder Glenn Gould nahe. Die Nachbarn beschwerten sich ohne Unterlass, und die Polizei nahm regelmäßig Anzeigen wegen nächtlicher Ruhestörung auf.
Martha litt besonders unter der extrem dichten Abfolge ihrer Konzerttermine. Ihr erster Konzertagent, Curt W. Winderstein aus München, hatte das Potenzial der Pianistin erkannt und machte sich
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