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Martha Argerich

Martha Argerich

Titel: Martha Argerich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bellamy
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sie sich in ihrer Garderobe ein und wollte niemanden sehen.
    Sie vermied es, große Worte über ihr gutes Erinnerungsvermögen zu verlieren, weil sie die Neugier ihrer Mitmenschen nicht anstacheln wollte. Martín Tiempo hatte zweimal Gelegenheit, Zeuge dieses Phänomens zu werden. Eines Tages las er Martha zwei Seiten aus dem Roman eines jungen Argen-
tiniers vor, den er sehr schätzte. Doch dann klingelte das Telefon, die Pianistin wurde in eines ihrer üblichen Dauertelefonate verwickelt und die Vorlesestunde abgebrochen. Zwei Wochen später erwähnte Martín erneut den Namen des jungen Autors, und weil Martha sich nicht dafür zu interessieren schien, machte er ihr Vorhaltungen. In ihrer Ehre gekränkt, trug sie ihm die beiden Seiten daraufhin fast Wort für Wort auswendig vor. Martín war sprachlos. Triumphierend sah Martha ihn an und brach in Gelächter aus. Nicht, dass sie stolz auf ihre Leistung gewesen wäre, aber sie hatte bewiesen, dass sie eine aufmerksame Zuhörerin war, die nicht nur ihr Klavier oder ihre sonstigen persönlichen Angelegenheiten im Visier hatte. An einem
anderen Tag hörten die beiden jungen Leute zusammen die Live-
aufnahme von Erroll Garners Yesterday -Version. Martín kannte jede einzelne Note auf der Platte, während Martha, die sie zum ersten Mal hörte, nur mit einem halben Ohr lauschte. Zwei Tage später hörte Martín die Melodie in der Wohnung erklingen und freute sich, dass seine Freundin die Platte aufgelegt hatte. Als er ins Wohnzimmer kam, wurde ihm klar, dass sie diejenige war, die da spielte. Alles wurde exakt wiedergegeben, bis hin zu der berühmten Tempoverschiebung zwischen den beiden Händen, dem Markenzeichen des schwarzafrikanischen Pianisten, das so schwer nachzuahmen ist.
    Hätte Martha, wenn sie dieses übermenschliche Gedächtnis – das man auch total recall nennt – nicht gehabt hätte, im Alter von nur sieben Jahren bereits ein Klavierkonzert von Beethoven oder Mozart spielen können? Hätte sie sich im Schlaf Prokofjews Klavierkonzert Nr. 3 aneignen können, eines der schwierigsten Werke für das Instrument? Hätte sie all die Pflichtstücke bei den Wettbewerben in Bozen und Genf auswendig spielen können, nachdem sie die Noten vorher nur ein Mal studiert hatte? Diese Fähigkeit, die sie aus Angst, für eine Jahrmarktsattraktion gehalten zu werden, so gern versteckte, erleichterte ihr sicherlich das Leben, aber sie behinderte sie zugleich auch. Denn dieses monströse Erinnerungsvermögen geht nicht etwa selektiv vor: »Ich bin wie ein Schwamm«, sagt sie von sich. »Ich weiß einen Haufen Dinge, die ich gar nicht wissen will, und ich erinnere mich an alles. An absolut alles, noch Jahre später.«
    Am 13. April 1961 führte Martha zum ersten und einzigen Mal in ihrer Karriere Mozarts Klavierkonzert Nr. 23 A-Dur KV 488 in München auf. Ihre Interpretation des Adagios rührte nicht nur einen Zuhörer zu Tränen. Und dennoch war sie an diesem Abend mit den Nerven am Ende. Alle Versuche, sich ihr in den Tagen darauf anzunähern, wehrte sie ab. Ihre Freunde nannten sie schließlich »Fräulein Nein«. Je mehr Zeit ins Land ging, desto weniger Lust hatte sie, ein Klavier anzufassen. Die beruflichen Herausforderungen, die sich der jungen Pianistin stellten, belasteten sie immens. »Es hieß, sie sei die Beste, die Größte. Sie konnte sich kaum retten vor lauter Engagements«, erinnert sich Martín Tiempo. Juanita tat alles, um ihre Tochter daran zu hindern, sich aus dem Geschehen zurückzuziehen. »Die Leute vergessen schnell. Und dann musst du wieder bei null anfangen«, wetterte sie. All die Arbeit, all die Opfer, all die Energie, um den Punkt zu erreichen, an dem sie sich nun befand! Aber Martha wollte nichts davon hören.
    Juanita war außer sich. Sie brauchte einen Schuldigen. In ihrem Wahn rannte sie ins Büro des Botschafters und bezichtigte Martín Tiempo, die Karriere ihrer Tochter zerstört, sie für sich vereinnahmt und alles darangesetzt zu haben, sie von ihrer heiligen Mission abzubringen. In Argentinien war man stolz auf Martha Argerich. Sie war eine Nationalheldin. Die neue Evita Perón! Um einen Skandal zu verhindern, wurde Martín Tiempo vorsichtshalber nach Brüssel versetzt.
    Nachdem Martín die gemeinsame Wohnung verlassen hatte, zog Martha für eine Weile zu ihrer Mutter. Ihrer ewigen Klagen und Vorwürfe bald überdrüssig, folgte sie Martín Tiempo schließlich nach Brüssel, zusammen mit Nelson Freire, der sie besuchen gekommen war. Die

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