Martha Argerich
dieser Disziplin nicht unterwerfen: Sie wollte spielen – und sich nicht wiederholen. Außerdem genügte es ihr vollkommen, wenn sie die Noten ein Mal studiert hatte, um sie zu beherrschen. Zum Vergleich: Die leichte Beklemmung, die den mäßigen Schwimmer überkommt, wenn er sich trotz aller Vorsichtsmaßnahmen ein Stück vom Ufer entfernt, machte in ihrem Fall der panischen Angst des Champions Platz, der sich stundenlang über Wasser halten kann, aber vollkommen überfordert ist, wenn er nur ein wenig herumplanschen soll.
So erklärte sie in Hannover, nachdem sie sich vor den Mikrofonen der Deutschen Grammophon eingerichtet hatte, dem Toningenieur: »Ich spiele drei Mal, und dann entscheiden Sie.« Und zu Nelson Freire sagte sie lachend: »Wenn sie noch mehr Material brauchen, musst du an meiner Stelle spielen, das merkt sowieso keiner.« Zwischen den Aufnahmen rauchte Martha Zigarette um Zigarette und trank literweise starken Kaffee.
Gleich im Anschluss an die Aufnahmen gab sie sich, ohne zu murren, dem traditionellen Fotoshooting für das Covermotiv hin. Nelson Freire gibt lächelnd ein Geheimnis preis: »Davor hat sie sich extra noch die Haare gewaschen.«
Bern
Die gestörte Umlaufbahn
Während Martha nur noch damit beschäftigt war, ihre Europatourneen zu bewältigen, hatten ihre Eltern und der kleine Cacique Wien verlassen und sich in der Schweizer Hauptstadt Bern niedergelassen, um näher an Genf zu sein. Sowohl Juan Manuel Argerich als auch seine Frau Juanita hatten eine Stelle in der argentinischen Botschaft gefunden und bezogen eine hübsche kleine Wohnung. Martha besuchte sie, kaum dass sie etwas Muße hatte. Juan Manuel, der als Handelsberater tätig war, sehnte sich nach seinem Heimatland. Die Karriere seiner Tochter schien ihm einen guten Verlauf zu nehmen. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt mit ihren Auftritten, wenngleich sie diese viel zu oft absagte und im Übrigen ihr Geld zum Fenster hinauswarf. Juan Manuel hatte also beschlossen, mit seinem Sohn
nach Argentinien zurückzukehren. Für Juanita kam es nicht in Frage, Martha sich selbst zu überlassen und in die Heimat zurückzukehren – einmal mehr, als es um ihre Ehe nicht zum Besten stand. Cacique konnte die Trennung der Eltern nur schwer verwinden und empfand die Entscheidung seiner Mutter, in Europa zu bleiben, erneut als persönliche Zurücksetzung.
Im Mai jenes Jahres, ein paar Wochen vor der großen Abreise nach Südamerika, präsentierte sich ein junger argentinischer Kulturattaché, Martín Tiempo*, in der Berner Botschaft. Er machte die Bekanntschaft von Juan Manuel Argerich, der ihn sofort in ein Gespräch über Tango verwickelte und ihm die Gedichte vorlas, die er über seine Tochter geschrieben hatte. Martín interessierte sich vor allem für Jazz und hatte keine Ahnung, wer Martha Argerich war. Juan Manuel beeilte sich, ihm Martha vorzustellen, nachdem diese aus Spanien zurückgekehrt war. Er konnte kaum auf seinem Stuhl still sitzen und war sehr besorgt darum, ob sie nun guter Laune war oder nicht. »Ich sah ein nettes junges Mädchen auf mich zukommen, mit wunderschönen schwarzen Haaren und einer Brille für Kurzsichtige, das einen riesigen Koffer aus grünem Karostoff hinter sich herzog«, erinnert sich Martín Tiempo. Sie schloss sich im Nebenzimmer ein, um Klavier zu üben. Ihre Eltern konnten es kaum erwarten zu erfahren, welchen Eindruck sie bei ihm hinterlassen hatte. Er war sehr erstaunt, als er herausfand, mit welch einer Angst alle den Reaktionen der Pianistin begegneten. Ihre Stimmung, die sich von einer Sekunde auf die andere verändern konnte, war Gegenstand unzähliger Spekulationen seitens der Familienmitglieder.
* Der damals noch nicht Vater des Pianisten Sergio Tiempo war …
Martín Tiempo wurde innerhalb kürzester Zeit von den Argerichs wie ein drittes Kind angenommen. Weil die Familie bald umziehen und Juanita im argentinischen Konsulat in Genf arbeiten würde, um näher bei ihrer Tochter zu sein, wurde vereinbart, dass Martín die leer stehende Berner Wohnung übernahm. Kurz nach dem Auszug ihrer Eltern sollte Martha an der Tür des jungen Kulturattachés klingeln – mit der Frage, ob sie eine Zeit lang bei ihm unterkommen könne, weil sie ihre Mutter nicht mehr ertrage. Eine Woche später zog sie mit ihren Koffern bei
ihm ein. Für Martín, der fasziniert von ihrer Wunderkind-Aura war, stellte die Welt der klassischen Musik völliges Neuland dar.
Zu seinen wenigen Erfahrungen auf dem Gebiet zählten
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