Martha Argerich
Köln leitete. Und wie es der Zufall wollte, lief sie auf dem Bahnhof, während sie auf ihren Zug wartete, ausgerechnet Nelson Freire in die Arme, den sie in der Wiener Musikakademie kennengelernt hatte. Er erkannte sie nicht gleich, weil sie sich wegen einer Wette eine Strähne ihres Haares rot gefärbt hatte, die nun ihr Gesicht verdeckte. Martha ihrerseits konnte aufgrund ihrer Kurzsichtigkeit niemanden erkennen, der sich weiter als zwei Meter von ihr entfernt befand. Auch Nelson Freire wollte Seidlhofers masterclass besuchen. In Brühl angekommen, spazierten sie, weil sie noch ein wenig Zeit hatten, wie zwei Kinder Hand in Hand durch die Straßen.
Für sein Vorspiel hatte Nelson Freire Schumanns Klavierkonzert gewählt. Martha Argerich bot sich wie selbstverständlich an, den Orchesterpart auf dem zweiten Klavier zu übernehmen. Nelson war nicht wenig stolz darauf, sich vor den etwa zwanzig Schülern an der Seite einer solch ausgesuchten Begleitung präsentieren zu können. Bruno Seidlhofer kam gerade aus Warschau, wo er Mitglied der Jury des sechsten Chopin-Wettbewerbs gewesen war, bei dem Maurizio Pollini den Sieg errungen hatte. Als Martha ihm ihr Programm vorspielte, konnte er nicht ahnen, dass sie sich fünf Jahre später ebenfalls den ersten Platz dieses Wettbewerbs erobern sollte.
Nach einer Nacht, in der sie die Welt auf den Kopf gestellt hatten, mochte Martha nicht mehr allein nach Hause zurückkehren. Am Ende begleitete Nelson Freire, der eigentlich nach Wien hätte weiterfahren müssen, sie nach Berlin. In jener Zeit arbeitete er an Brahms Klaviersonate Nr. 2 . Also spielte auch Martha dieses Stück – hatten sie doch ausgemacht, von nun an alles miteinander zu teilen.
Ein paar Tage später brachte Nelson Martha nach Hannover. Sie hatte keinen blassen Schimmer von den Abläufen bei einer Plattenproduktion, was sich bis heute nicht geändert hat. In dieser Hinsicht ist sie das genaue Gegenteil von Glenn Gould: Ein Stück Dutzende Male einzuspielen, um dann in mühseliger Kleinarbeit die besten Takes zusammenzustückeln, empfindet sie als viel zu aufwendig und künstlich. Sich die eigenen Sachen anzuhören, sie zu analysieren, eine Auswahl zu treffen – wie öde! Gewiss, im Rahmen ihres Unterrichts bei Friedrich Gulda hatte sie diese Erfahrung bereits gemacht, doch das war etwas anderes: Er kannte sie schließlich in- und auswendig. Martha konnte nicht erklären, was mit ihr passierte, wenn sie Musik machte, und fühlte sich außerstande, ihre verschiedenartigen Empfindungen in Form einer Synthese auf den Punkt zu bringen. Vielleicht fürchtete sie auch, an Vitalität und Kraft zu verlieren, wenn sie die Dinge zu sehr vom Intellekt her betrachtete. Um ihre Ängste in den Griff zu bekommen und sich selbst einem gewissen Regulativ zu unterwerfen, hatte sie sich ein Ritual ausgedacht, das einen starken Hang zum Aberglauben vermuten lässt. Während der Vorbereitung eines Auftritts – in der Regel am Vorabend, also im allerletzten Moment – spielte sie jedes Stück drei Mal. Sie war fest davon überzeugt, dass eine Katastrophe auf der Bühne über sie hereinbrechen würde, sollte sie diese goldene Regel auch nur ansatzweise brechen. Wenn ihr in der Nacht eine Idee gekommen war, die sie gern am Klavier ausprobieren wollte, zwang sie sich zu einem neuen Zyklus aus drei Versuchen. Aber – eine weitere Regel – nie spielte sie ein Werk in seiner Gänze, bevor sie es nicht im Konzert dargeboten hatte: Entweder hörte sie kurz vor dem Finale auf oder ließ eine zentrale Passage in der Mitte weg oder übersprang den Beginn der Partitur – wie jene hochempfindsamen Leser, die ein Buch, in dem sie sich in jeder Zeile wiederfinden, aus lauter Angst, sie könnten nach der letzten Seite sterben, niemals zu Ende lesen. In den Ohren rationaler Menschen klingt so etwas kindisch, aber es war auch ein cleverer Schachzug, sich für den Moment der öffentlichen Darbietung eine maximale Frische zu bewahren, die Würze nicht zu verwässern und nicht vor der Zeit zum eigentlichen Geheimnis vorzudringen.
Keine Frage, dass die meisten Pianisten ein Werk Hunderte von Malen geübt haben müssen, um es vor Publikum spielen zu können, und zwar sowohl aus musikalischen als auch aus rein mechanischen Gründen. Man muss es in den Fingern haben, jedes Risiko, sich zu verspielen, ausschließen, sich vor einem möglichen Blackout schützen, indem man auf das Erinnerungsvermögen der Hände vertraut. Martha indes musste sich
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