Martha Argerich
Pianistin nun kommen würde oder nicht. Charles Dutoit trug eine betont heitere Miene zur Schau, plauderte und scherzte mit den Musikern – und warf ständig unruhige Blicke in Richtung Tür. Spürhunde wurden auf die Abwesende angesetzt. Irgendjemand fand sie schließlich, wie sie barfuß um den See herumspazierte. Mit dem Rückweg ließ sie sich ordentlich Zeit, strich hier über
die Rinde eines Baumes, flocht dort ein paar Wiesenblumen in
ihr Haar (und klagte, dass sie es nicht mehr waschen könne). Hinter den Kulissen wurden Seufzer der Erleichterung ausgestoßen, als sie auftauchte, aber aus Angst, sie könnte ihre Meinung noch einmal ändern, taten alle so, als sei nichts gewesen. Im Konzertsaal hatte das Orchester bereits zu spielen begonnen. Sie trat auf das Klavier zu und setzte sich geräuschlos auf ihren Hocker. Als wäre ein Stromschlag durch das Orchester hindurchgegangen, modellierten die Streicher auf einmal die Farbenflut ihrer Töne, ließen die Holzbläser ihr maliziöses Lachen erklingen, trompetete das Blech seine Freude heraus – und plötzlich bemerkte
auch der in die Partitur vertiefete Charles Dutoit, dass sie da war. Ohne im Dirigieren innezuhalten, warf er ihr einen kurzen Blick zu, den er so neutral wie möglich hielt. Sie war in das Konzert hineingebrochen wie ein Sonnenstrahl. Lächelnd nahm Martha das stumme, nur mit den Lippen formulierte »Alles in Ordnung?« des Orchesterchefs entgegen, als dieser sich ihr erneut zuwandte – so als hätten sie sich am Vorabend zuletzt gesprochen und sie hätte sich bloß einen kleinen Scherz erlaubt.
Damals, zur Zeit ihres ersten gemeinsamen Konzerts, waren die beiden jungen Leute »nur Freunde, weiter nichts«. Von gleicher Körpergröße, tauschten sie aus Spaß die Kleider miteinander. Und dann gingen sie jeweils ihrer Wege. Die Karriere von Charlie nahm ihren rasanten Anfang. Martha dachte darüber nach, die ihre zu unterbrechen, ohne jedes Gespür für die Faszination, die sie überall auslöste. »Sie flüchtete vor ihrer Mutter, sie flüchtete vor dem Klavier, sie flüchtete vor der ganzen Welt!« Nach ihrer New Yorker Enttäuschung zurück in Europa und schwanger mit Lyda, traf Martha Charlie auf ein Stück Kuchen in einem Berner Mövenpick. Er sollte Friedrich Gulda in Mozarts Klavierkonzert Nr. 20 d-Moll dirigieren. »Kaum kam das Gespräch auf Gulda, war Martha sofort total aufgedreht!« Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, stieg sie in sein Auto, um das Konzert miterleben zu können. Nach dem Mozart waren sie mehr als nur Freunde …
Als Martha 1965 wieder begann, Recitals zu geben, wollte sie dies nicht mehr alleine tun. Also begleitete Charlie sie bei ihren Konzertauftritten, wann immer es ihm möglich war, in seinem gelben Porsche 911 S, mit offenem Verdeck. »Die Strecke Hamburg–Basel haben wir in vier Stunden zurückgelegt«, behauptet er mit stolzgeschwellter Brust. Er war derjenige, der Zuversicht ausstrahlte, der alles auf sich nahm, den Chauffeur spielte – und gelegentlich auch den Konzertveranstalter benachrichtigte, wenn sie am Abend nicht spielen wollte. »Ich fühlte mich verantwortlich, wenn sie eine Stunde vor dem Auftritt absagte.« Doch der Schweizer hatte eine gute Konstitution, er liebte seine Martha zärtlich und war der Ansicht, dass der Moment, da sie dann endlich auf der Bühne stand, jede vorherige Mühe wert gewesen sei. Er brachte sie überallhin, innerhalb von ganz Europa. Einmal hielt die britische Polizei sie auf dem Weg nach Edinburgh an, als der Tacho 180 Stundenkilometer anzeigte. »Gott sei Dank gibt’s beim Klavier keine Geschwindigkeitsbegrenzung!«, dachte sie nur. Die Polizisten wollten nicht glauben, dass sie es mit Musikern zu tun hatten. Sie dachten vielmehr an die Entführung eines naiven Mädchens aus Osteuropa, das von einem skrupellosen Zuhälter zur Prostitution gezwungen wurde. Die besorgte Miene von Charlie trug mitnichten dazu bei, sie eines Besseren zu belehren. Er hatte nur eines im Sinn: »Hauptsache, sie spielt heute Abend und sagt nicht ab!«
Hin und wieder gab es für ihn auch positive Überraschungen. 1996, aus Anlass der großen Fernosttournee des Orchestre National de France, dessen musikalischer Leiter Charles Dutoit war, hatte Martha das Klavierkonzert Nr. 1 von Liszt einstudiert. Der Dirigent hatte es extra so eingerichtet, dass seine Solistin nur jeden zweiten Abend spielen musste. In Peking waren für das erste von zwei Konzerten lediglich ein paar reine
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