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Martha Argerich

Martha Argerich

Titel: Martha Argerich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bellamy
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genannt »der Poet der Genauigkeit«. Als Mathematiker, Philosoph und Komponist war Ansermet der musikalische Direktor der Ballets Russes von Diaghilew gewesen, bevor er das Orchestre de la Suisse Romande gründete, das er ein halbes Jahrhundert lang auf höchstem Niveau halten konnte. Präzision, Ausgewogenheit, eine warme Tonfarbe – dies waren seine Hauptqualitäten, die ihn zu einem der unum-
strittensten Heroen der französischen Musikszene machten. Charles Dutoit hat seinen raffinierten Stil übernommen und ihn an seine nicht ganz so geradlinige Persönlichkeit angepasst.
    Eines Abends im Jahr 1958 sah Martha den jungen Maestro in die Genfer Wohnung hineinstolpern, die sie mit ihrer Landsmännin, der Pianistin María Rosa Oubiña (alias Cucucha), teilte. Sie hatte sich gerade die Haare gewaschen, alles mit Wasser vollgespritzt und suchte verzweifelt nach einer Zigarette. Er war lustig, sensibel, auch wenn er ein wenig irritiert wirkte. Sie wurden auf der Stelle Freunde.
    Im Januar 1959 gab Charles Dutoit sein erstes professionelles Konzert mit dem Orchestre de Lausanne, in dessen Reihen er häufig die Bratsche gespielt hatte. Um ihn zu unterstützen, hatte Martha versprochen, mit ihm zusammen und zum ersten Mal in ihrem Leben Ravels Klavierkonzert G-Dur zu spielen – ohne zu ahnen, dass sie dieses Werk später gemeinsam auf sämtlichen Bühnen der Welt aufführen würden. Bei der Probe ohne Orchester (Magaloff hatte sich bereit erklärt, die zweite Klavierstimme zu übernehmen) war sie so nervös, dass sie sich weigerte, den langsamen Satz zu spielen. Dieses sublime Konzert, eines der inspiriertesten Werke Ravels, beginnt mit einem Solopart für Klavier, bis dann sozusagen auf halber Strecke die Holzbläser und Streicher hinzukommen. Bei der Probe mit Orchester erwies sich die Gestaltung der beiden schnellen Sätze als recht delikate Angelegenheit, weil die Pianistin sich für ein extremes Tempo entschieden hatte. Der Fagottist war grün vor Angst: »Sucht euch einen anderen! Bei dem Tempo komme ich nicht mit!« Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hatte Martha sich erneut geweigert, sich mit dem Adagio zu beschäftigen, was große Unruhe unter den Musikern auslöste, die ihren Part nun ohne die Solistin spielen sollten. Abends brachte Charles sie zu seinen Eltern, die in Écublens lebten, einem kleinen Ort in der Nähe von Lausanne. Vater Dutoit war sofort von der Pianistin eingenommen. Als sie während des Essens aufstand, um im Garten einem natürlichen Bedürfnis nachzugehen, erklärte er, noch nie jemanden kennengelernt zu haben, der so spontan sei. Vorgewarnt bezüglich Marthas nächtlicher Gewohnheiten, hatten die Gastgeber sich darauf eingerichtet, an dem Abend erst sehr spät zu Bett zu gehen. Was für eine Überraschung, als die Pianistin sich bereits um neun Uhr in ihr Schlafzimmer zurückzog, weil angeblich die Müdigkeit sie übermannt hätte! Anhand des Lichtscheins, der nach ein Uhr nachts noch immer unter ihrer Zimmertür hervordrang, begriff Charles schließlich, dass sie nichts anderes tat, als mit äußerster Sorgfalt Ravels Klavierkonzert zu verinnerlichen, das sie noch nie in der Öffentlichkeit gespielt hatte. Besondere Aufmerksamkeit legte sie dabei auf den langsamen Satz,
von dem der Komponist behauptet hatte, ihn unter allergrößten Qualen Note für Note aufs Papier gebracht zu haben, ohne je zu wissen, welches die nächste Note sein würde. Charles Dutoit war nicht weniger nervös als sie, denn am nächsten Abend würde er den zentralen Teil dieses Meisterwerks improvisieren müssen, für den es bekanntlich keine Proben gegeben hatte. Eine Aufnahme, die in Japan herausgekommen ist, hat jenes historische Konzert, das in seiner Fragilität an eine Flamme im Wind erinnert, für die Ewigkeit festgehalten. Der langsame Satz fasziniert durch seine Zartheit, seine filigrane Leichtigkeit und das mozartische Licht, das er verbreitet: Jede einzelne Note scheint Ausdruck eines überstandenen Schmerzes.
    So wie andere Paare »ihr« Lied haben, ist Ravels Klavierkonzert G-Dur für Martha Argerich und Charles Dutoit »ihr« Stück geblieben. Auf sämtlichen Kontinenten traten sie mit dieser unvergänglichen Freundschaftshymne auf, die einmal sogar einen handfesten Streit zwischen ihnen zu schlichten vermochte. Es war in den Achtzigerjahren beim Festival von Montreux – nachdem sie mehrere Tage lang kein Wort miteinander gesprochen hatten. Bei der Generalprobe zitterten noch alle, ob die

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