Martha Argerich
Aschenbechern, leeren Gläsern und über die Sofas verteilten schlafenden Menschen. Dreimal in der Woche, wenn er von seinen Proben zurückkehrte, füllte er den Kofferraum seines Peugeot 504 bis an den Rand mit Nahrungsmitteln, um die Gäste seiner Frau zu bewirten. Er versuchte, ihr das Autofahren beizubringen, um sich von dieser Last zu befreien, doch zutiefst gekränkt, weil er ihr einen Automatik-
wagen vorschlug, wollte sie kein Wort mehr darüber hören. »Sie hat sich nur deshalb nicht mit unserem Waldenser Haus anfreunden können, weil ohne Auto das nächste Tabakgeschäft zu weit weg war!«, scherzt Charles Dutoit gern.
Durch ihre Ehe mit Charles Dutoit war Martha Schweizer Staatsbürgerin geworden. Der Schweizer Pass vereinfachte das Reisen für sie und ließ sie leichter an Arbeitsvisa herankommen. Doch was Juanita ein Gefühl der Sicherheit verlieh und Charles mit Stolz erfüllte, war ihr selbst vollkommen gleichgültig. Sich über ihren Ehemann mokierend, bringt sie ihre Beziehung auf den Punkt: »Er hat mir beigebracht, eine Carte Bleue zu benutzen und Kontaktlinsen zu tragen.« Bevor sie ihn kennenlernte, hatte sie sich ihre Gage immer bar auszahlen lassen, um genug Geld für ihre täglichen Ausgaben in der Tasche zu haben. Doch um nicht ungerecht zu sein: Das Klavierkonzert Nr. 3 von Beethoven, de Fallas Nächte in spanischen Gärten und Mozarts Klavierkonzert Nr. 25 C-Dur hätte sie nie im Leben in der Öffentlichkeit gespielt, wenn er nicht unermüdlich und hartnäckig darauf gedrungen hätte.
Obwohl er so oft mit ihr gespielt und sie von ihren intimsten Seiten kennengelernt hat, fühlt Charles Dutoit sich bis heute nicht in der Lage, Martha Argerichs Talent zu definieren: »Ein Mysterium.« Bei der Erinnerung an einen gemeinsamen Auftritt in Philadelphia mit Beethovens Klavierkonzert Nr. 1 , bei dem ihre Kadenz klang wie von einer Harfe gespielt, füllen sich seine Augen mit Tränen. Er musste sich damals extra umdrehen, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht täuschte. »Sie ist anders strukturiert als wir und gibt sich unendliche Mühe, dem unglaublichsten aller musikalischen Talente einen Rahmen zu verleihen.« Bevor er stirbt, möchte er noch einmal ihr Nocturne Des-Dur op. 27, 2 von Chopin hören.
Die Ehe hielt fünf Jahre. 1974, während einer Tournee durch Kanada und Japan, spürte Martha plötzlich eine Veränderung in Charlies Verhalten. Es roch nach Verrat in der Flugzeug-
kabine. Sie durchlöcherte ihn mit Fragen. Er stritt alles ab. Nach ihrem Auftritt in Ottawa, mitten in der Nacht, gestand er ihr endlich ein, dass es da jemand anderen gebe. Erbarmungslos setzte sie ihre Attacke fort: »Wer ist es?« Doch Charles, aus Erfahrung klug geworden, hüllte sich in Schweigen. Er wusste nur allzu gut, dass sie nicht eher ruhen würde, bis ihre Neugier gestillt wäre, ohne sich um den weiteren Verlauf der Tournee zu scheren. Und in Japan kommt die Annullierung eines Auftritts in etwa einer Kriegserklärung gleich. Auf dem Flug von Vancouver nach Japan wurde das enervierende Fragespiel, die
nicht enden wollende Raterei fortgesetzt. In Tokio, im Hotel New Otani, knallten die Türen. Weil er weiterhin stumm blieb, durchwühlte Martha seine Sachen und fand schließlich einen kompromittierenden Brief. Sie warf ihm ihren Ehering vor die Füße – den einzigen, den sie je getragen hat – und nahm das erstbeste Flugzeug zurück nach Europa. Der Brief stammte von der koreanischen Geigerin Kyung-Wha Chung, einer beachtlichen Musikerin und Schwester des Dirigenten Myung-Whun Chung. Laut Martha war sie »seine große Liebe«. Sie sagt es ohne jede Bitterkeit, wahrscheinlich aus dem Gedanken ausgleichender Gerechtigkeit heraus, denn sie fand damals recht bald zu Stephen Kovacevich zurück, mit dem sie immer wieder stundenlange
Telefonate geführt hatte.
Nach jenen quälenden Ereignissen erwies sich eine einvernehmliche Scheidung als die beste Lösung. Die Freundschaft zwischen ihnen blieb bestehen. Auf den Treppenstufen, die aus dem Gerichtsgebäude führten, in Anwesenheit ihrer völlig konsternierten Anwälte, drehte sie sich zu dem Mann um, mit dem sie seit wenigen Minuten nicht mehr verheiratet war, und sagte zu ihm: »Hey, Charlie, was hältst du davon, wenn wir heute ins Kino gehen?«
Ein paar Jahre später verbrachten sie gemeinsam mit ihrer Tochter Annie einen Campingurlaub in den Kanadischen Rocky Mountains. Charles Dutoit träumt noch heute davon, Martha die Galapagosinseln zu zeigen,
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