Martha Argerich
wo aus sie endgültig in die russische Hauptstadt ausreisen durften. Im Hotel Metropol angelangt, in der Nähe des Roten Platzes, wagten sie nicht, miteinander zu sprechen, aus Angst vor den Wanzen, mit denen das Zimmer gespickt sein konnte. Mit unterdrückter Stimme fluchte Charlie: »In Sachen Luxusreise bin ich bedient!«
Am 4. Oktober 1970 ereignete sich in der Frauenklinik von Bern, der Stadt, deren Orchester Charles ganzjährig dirigierte, und wo Martha sich mit einem musikbegeisterten Gynäkologen zusammengetan hatte, der schönste Moment in ihrer gemeinsamen Geschichte: Annie Dutoit wurde geboren. Martha war schon einmal schwanger von Charles gewesen, hatte aber unter seinem massiven Druck abgetrieben, was sie ihm extrem verübelt hatte. Nachdem Juanita, die immer mit der Nase in einem Astrologiebuch steckte, das Kind geküsst hatte, sagte sie: »Waage, Aszendent Schütze. Viel Verantwortungsgefühl und geleitet von Liebe.« Offiziell wurde die zweite Tochter Marthas Anne-Catherine getauft, weil das kleinliche Berner Standesamt der Ansicht war, Annie sei eine Verniedlichungsform und kein anerkannter Vorname. Eine Zeit lang hatten sie über Anne-Caroline nachgedacht, wegen Charlie, den Martha »Carolus« nannte. Doch für die ganze Welt heißt sie nun Annie.
Kaum vom Wochenbett genesen, begab sich die Pianistin erneut in das Veranstaltungsgetriebe: Dutoit hatte sie für mehrere Konzerte verpflichtet, die er dirigierte. Da sie keine Verträge mehr unterzeichnete, um sich die Freiheit zu bewahren, in letzter Minute absagen zu können, verhandelte er ihre Mitwirkung heimlich und stellte sie dann vor vollendete Tatsachen. Martha, die gehofft hatte, Zeit mit ihrem Baby verbringen zu können, sah sich erneut in der Falle. Seine Überaktivität machte sie verrückt, ihre Trägheit brachte ihn auf die Palme. Er hatte sie »Bleiarsch« getauft, sie ihn »Hans Dampf«.
Im selben Jahr wollte Charles Dutoit, dass sie Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 1 aufnahm. »Es war eine Staatsaffäre, sie dazu zu bringen.« Martha weigerte sich hartnäckig. Er bestand darauf. Sie wehrte sich. Obgleich sie zugeben musste, dass sie prädestiniert für die Interpretation dieses so virtuosen Werkes war. Doch in ihrer skrupulösen Art sah sie keinen rechten Grund, das Konzert einzuspielen, das sie zwar technisch perfekt beherrschte, aber nicht wirklich bis in die Tiefe erfühlen konnte. Nachdem er in der sicheren Annahme, sein Ziel doch noch zu erreichen, Tonstudio und Orchester gebucht hatte, erlitt Charles Dutoit einen Autounfall. Wenn das Korsett, das man ihm zur Vermeidung von Spätfolgen verpasst hatte, ihn auch daran hinderte, sich frei zu bewegen, so verfehlte es indes nicht seine Wirkung auf die Pianistin, die sich schließlich widerwillig in das Tonstudio in England begab, wo das Royal Philharmonic
Orchestra schon auf sie wartete. Wie um zu beweisen, dass ihre anfängliche Weigerung nicht Ausdruck einer Laune oder Pose gewesen war, sollte sie das Stück nur zwei weitere Male im Laufe ihrer Karriere öffentlich spielen. Doch die Platte machte ihren Siegeszug um die Welt und begeistert noch heute die Liebhaber eines entfesselten Klavierspiels. Niemand – außer Vladimir Horowitz – hatte Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 1 bisher mit einer solchen Verve gespielt. Das war mehr als bloße Virtuosität!
Zu Beginn ihres Zusammenlebens hatte sich das Paar in Jouxtens in der Schweiz niedergelassen. Man kann ihr Haus in dem Dokumentarfilm sehen, den der Fernsehsender Télévision Suisse Romande 1972 über sie ausgestrahlt hat. Martha spielt dort Mozart vor der Kamera: ein paar Takte aus der Sonata facile KV 545 und dem Rondo a-Moll . Charlie studiert eine Partitur. Eine Ahnung von Glück … Danach kauften sie einen Bauernhof aus dem siebzehnten Jahrhundert in dem Waldenser Einhundert-Seelen-Dorf Chavannes-le-Veyron. Die Einheimischen konnten erleben, dass mitten in der Nacht eine Horde aus der ganzen Welt stammender Musiker in ihr Dorf einfiel, und von Weitem über das stille Land hinweg die heiligen Klänge eines konvulsiven, trun-
kenen Klaviers vernehmen. Martha Argerichs Charme erlegen, nannte der Bürgermeister seine größte Kuh, ein wahres Prachtexemplar, wie gemacht für eine Viehschau, dann auch »Martha«.
Ihr Leben als Paar hatte mit der ruhigen, beschaulichen Existenz, von der der Schweizer Dirigent zweifellos geträumt hatte, nicht viel zu tun. Wenn Martha zu Bett ging, stand er auf, inmitten von überquellenden
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