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Martha Argerich

Martha Argerich

Titel: Martha Argerich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bellamy
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Martha führte ihn in die Welt des Jazz ein, ließ ihn Ella Fitzgerald und Art Tatum entdecken, präsentierte ihm den Geiger Jascha Heifetz, Schuberts Kammermusik, Strawinskys und Ravels symphonische Werke, die Stimme der Callas, die Cellistin Jacqueline du Pré. Sie gingen auch zusammen ins Kino: Nicht gesellschaftsfähig von John Huston mit Marilyn Monroe, Clark Gable und Montgomery Clift beeindruckte sie besonders. Weil sie alles über sein Leben wissen wollte, erzählte er ihr alles.
    Nelson Freire wurde am 18. Oktober 1944 im brasilianischen Boa Esperança geboren, einer kleinen Stadt mit zehntausend Einwohnern im bergigen Bundesstaat Minas Gerais, zehn Autostunden von Rio entfernt. Das Jüngste von fünf Kindern einer Lehrerin und eines Apothekers begann im Alter von drei Jahren nach dem Gehör kleine Stücke zuspielen, die seine Schwester Nelma auf dem Klavier klimperte. Seine Eltern erkannten seine Begabung und brachten ihn zu einem Professor aus Uruguay, der eine Stunde mit dem Autobus über holprige Feldwege von ihnen entfernt lebte. Nach zwölf Unterrichtsstunden wusste der
Schüler genauso viel wie sein Lehrer, der ein wegweisendes
Urteil abgab: »Entweder Sie betrachten ihn als Wunderkind, und mit sechzehn ist alles vorbei – oder aber er geht nach Rio und fängt dort ernsthaft an zu studieren.«
    Senhor Freire musste eine schwierige Entscheidung treffen. Er erklärte sein schmerzvolles Dilemma in einem Brief, den Nelson stets sorgsam verwahrt hat: »Sollen wir unsere Herzen sprechen lassen und in unserer geliebten Heimat bleiben, dich aufziehen, wie wir unsere anderen Kinder aufgezogen haben, in einer
Atmosphäre des Friedens und des Verständnisses, und hier unseren materiellen Interessen und familiären Verpflichtungen nachkommen? Oder sollen wir nach Rio ziehen, wo das Leben viel teurer ist und die Freundschaften seltener, aber wo du dein Talent ins Unermessliche wirst steigern können? Nach langem Überlegen sind wir zu der Entscheidung gekommen, den zweiten Weg zu gehen und unsere Zukunft in Gottes Hand zu legen.«
    Seit seiner Ankunft in Rio de Janeiro 1950 litt Nelson unter der Luftveränderung und dem Gefühl, fehl am Platz zu sein. Er war ständig krank, gegen alles Mögliche allergisch und konnte nicht ertragen, dass man ihn berührte. Als der Klavierprofessor sein Talent mit einem Klaps hinters Ohr anerkannte, wurde er knallrot und reagierte mit einem Tritt gegen das Schienbein des Maestro. In ihrer Verzweiflung wandten sich die Eltern an die Pianistin und Professorin Lúcia Branco, die keine so jungen Schüler annahm, sich aber wenigstens dazu herabließ, Nelson anzuhören. Nachdem er für sie gespielt hatte, versteckte sich der kleine Wildfang hinter dem Klavier. Lúcia Branco überlegte eine Weile, wem sie ein solch seltsames Wesen würde anvertrauen können, bis ihr ihre ehemalige Schülerin Nise Obino in den Sinn kam. »Nise, ich habe hier einen Verrückten – und weil du auch verrückt bist, könnte es vielleicht mit euch funk-
tionieren.« Nise war auf eine fast schon skandalöse Weise schön, geschieden und Kettenraucherin. Nelson war ihr auf den ersten Blick verfallen. Ihre Beziehung sprengte in jeder Hinsicht den rein musikalischen Rahmen. Eines Tages bekam der Junge plötzlich vierzig Grad Fieber. Weil er sich im Delirium befand, rief seine Mutter bei Nise an, die sofort herbeieilte. Sie legte ihre Hände auf seine Stirn, und das Fieber schwand augenblicklich. Mit acht Jahren gab er ein öffentliches Konzert, das ein großer Erfolg wurde, doch Nise zuckte nur mit den Achseln: »Blumen über Blumen. Nichts, auf dem man aufbauen könnte.«
    In Ipanema (dem Viertel von Rio, in dem er aufwuchs) teilte Nelson Freire seine knapp bemessene Freizeit zwischen Strand und Kino auf. In den dunklen Filmvorführsälen träumte er von Rita Hayworth, Bette Davis oder Ava Gardner. Trotz seines jugendlichen Alters hatte ihn Lúcia Branco 1957 beim ersten internationalen Klavierwettbewerb von Rio angemeldet. In der Jury saßen die große brasilianische Pianistin Guiomar Novaës, die ihn als »kleinen Rubinstein« bezeichnete, und Marguerite Long, die ihn einlud, seine Ausbildung in Paris zu beenden. Doch er wollte unbedingt zu Bruno Seidlhofer, der aus Wien gekommen war, um einen Meisterkurs zu Beethovens Sonaten zu geben. Mit vierzehn Jahren, ausgestattet mit einem Stipendium des brasilianischen Staates, folgte Nelson seinem Mentor nach Wien und mietete sich bei einer exzentrischen, stark

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