Martha Argerich
schmiedet Pläne für eine gemeinsame Durchquerung Russlands mit der Transsibirischen Eisenbahn, denkt darüber nach, mit ihr auf immer demselben Längengrad von Adelaide nach Darwin in Australien zu fahren, plant einen Aufstieg auf das Dach der Welt in Tibet. Sie hört sich seine Vorschläge an, als würde er Chinesisch mit ihr sprechen. Er findet es vollkommen normal, dass sie ihn weiterhin
auf seinen zahlreichen Tourneen begleitet. Jedes Jahr verlangt er nach ihr, vereinbart Termine und regt sich auf, wenn es ihr gelingt, sich seinen Plänen zu widersetzen. »Sie hat mir achtzehn Konzerte im letzten Jahr abgesagt!«
2007 rechnete er fest mit ihrer Präsenz: Philadelphia, New York, Boston. Martha wehrte sich: Der Geburtstag ihres Enkels Roman, Sohn von Stéphanie, fiel in diese Zeit. Also empörte sich Charlie: »Wie stehe ich denn da, wenn du nicht kommst!?« Endlich, nach vielen Tränen und Schmollerei, sagte sie für Philadelphia und New York zu, durfte aber im Gegenzug Boston ausschlagen. Dieser Kompromiss verbitterte sie beide. Sie beschwerte sich, dass sie Stunden in der amerikanischen Botschaft hätte zubringen müssen, um ihr Visum zu erhalten. Er murrte weiter: »Sie hat noch nie mit dem Chicago Symphony gespielt!«, als wäre das eine nationale Katastrophe, kombiniert mit einem persönlichen Affront. Am Ende beruhigte er sich wieder, weil
er ihr die Zusage abringen konnte, endlich ihr Debüt in Hongkong zu geben.
Aber wenn er nicht wäre? Wer würde sich dann darum bemühen, dass sie auftritt?
Rio de Janeiro
Seelenverwandte
Der legendäre Klavierprofessor Bruno Seidlhofer sagte einmal: »Ich habe in meinem Leben drei Phänomene kennengelernt: Friedrich Gulda, Martha Argerich und Nelson Freire. Bei Gulda lief es über den Kopf. Bei Martha über die Finger. Und bei Nelson übers Herz.« Dieses Urteil scheint die argentinische Pianistin auf den ersten Blick abzuwerten. Allerdings nicht mehr dann, wenn man an die Worte Marguerite Duras’ denkt, die der Meinung war, dass der Mensch seinen eigentlichen Verstand in den Händen habe.
Nelson und Martha begegneten einander erstmals 1959 in der Mensa der Wiener Musikakademie. Nelson Freire war ein paar Wochen zuvor aus Rio de Janeiro gekommen. Er wollte einen Kaffee mit der Pianistin Helena Floresta trinken, als er plötzlich die Frau sah, die für ihn schon damals eine Legende war. Umringt von ihren Verehrern, brach Martha just in dem Moment in herzhaftes Gelächter aus. Wahrscheinlich, weil ihm das Getue um sie auf die Nerven ging, befand Nelson sie als hässlich – sehr zur Empörung seiner Begleiterin: »Bist du verrückt? Sie ist eine Schönheit! Komm, ich stelle dich vor!« Innerhalb weniger Minuten verfiel der kleine Brasilianer dem Charme der argentinischen Diva. Sie sprach in einem blasierten Ton, als wäre sie einem Nouvelle-Vague-Film entsprungen, und hatte sich einen Regenmantel über die Schultern gehängt, der einen Teil ihrer Haare bedeckte und ihre Arme frei ließ. Zu ihren Füßen befand sich eine Art Mappe, in der sie – in einem ziemlich wilden Durcheinander – Briefe, Schokolade, Fotos und ihre Gage aufbewahrte. Nelson kaufte sich auf der Stelle die gleiche Mappe, weil auch er ein »schicker Pianist« sein wollte. Er war vierzehn Jahre alt, sie siebzehn. Zwischen den beiden entwickelte sich eine merkwürdige Beziehung. Martha hatte das Gefühl, einen verlorenen Bruder wiedergefunden zu haben, war aber gleichzeitig auch ein wenig erschrocken über die Intensität ihres Verhältnisses. Sie dachten die gleichen Dinge im selben Moment, hatten die gleichen musikalischen Vorlieben. Weil sie so viel Zeit miteinander verbrachten, begann ihr Klavierspiel sich auf verwirrende Weise zu ähneln, ja sogar ihre Handschriften glichen sich mehr und mehr einander an. Sie machten sich wechselseitig über ihren Gang lustig. Der von Martha erinnerte an Charlie Chaplin, der von Nelson an den eines Pinguins auf Packeis – was im Endeffekt nicht so weit auseinander liegt. Sie hörten viel Musik zusammen. Nelson brachte ihr die Horowitz-Einspielung des Klavierkonzerts Nr. 1 von Tschaikowsky nahe, eine Aufnahme, die sie vom ersten Moment an in ihren Bann zog. Sie hörten auch Horowitz’ Interpretation des Klavierkonzerts Nr. 2 von Brahms unter Toscanini und spielten die Noten auf den Knien mit.
Nelson war ein geradezu fanatischer Musikliebhaber. Sein ganzes Geld steckte er in Noten und Schallplatten, allerdings galt seine Liebe ausschließlich dem Klavier.
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