Martha Argerich
kurzsich-
tigen Gräfin ein, die mit einer ganzen Schar Hamster gegenüber der Staatsoper lebte.
Die Begegnung mit Martha veränderte sein Leben, doch nach zwei Jahren musste er nach Brasilien zurück, weil sein Stipendium abgelaufen war. Er war sehr deprimiert und hoffte inständig, seine argentinische Freundin bald wiedersehen zu können.
Als er ein paar Monate später nach Europa zurückkehrte, dauerte es eine Weile, bis sie erneut zusammen spielten. Ihr erstes gemeinsames Konzert datiert von 1968 und – darin sind sich beide einig – war kein wirklicher Erfolg. 1977 wiederholten sie das Experiment, und schon vom ersten Moment an lief alles sehr viel besser als beim Mal zuvor. »Nelson ist ein sehr guter Zuhörer beim Musizieren«, erklärt Martha. »Das ist selten. Viele Leute reden davon, aber die wenigsten wissen, worum es wirklich geht.« Er seinerseits behauptet, dass zwischen
ihnen alles ohne Worte, in einem stillschweigenden Einverständnis ablaufen würde: »Wir sind wie zwei Tiere, die sich über Blicke miteinander verständigen. Zeit und Raum existieren nicht.« Als Philips 1982 Marthas fantastische Aufnahme von Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 3 unter Riccardo Chailly herausbringen wollte, akzeptierte sie nur unter der Bedingung, ein vierhändiges Programm mit Nelson Freire aufnehmen zu dürfen, dessen Karriere gerade ins Stocken geraten war. Die legendäre Schallplatte enthält ihr besonderes Lieblingsstück, La Valse von Ravel, das sie häufig zusammen spielen, ohne es jemals systematisch eingeübt zu haben – so stark ist ihre innere Verbundenheit. Das Plattencover zeigt sie in einem verliebten Face-to-Face – nur in der französischen Ausgabe nicht, da das Foto von den Franzosen als zu suggestiv erachtet wurde. Nelson behauptet, dass er durch Martha am Klavier »fruchtbarer« geworden sei. Es scheint fast so, als hätte sie in dem Duo den maskulinen Part übernommen.
Ihre Art, ein Stück zu interpretieren, ist nie die gleiche, weil sie immer wieder neu versuchen, den anderen zu erfühlen und sein Spiel zu antizipieren. »Wenn diese beiden Musiker nebeneinander oder einander gegenübersitzen, vollzieht sich ein regelrechtes Wunder: Ein dritter Pianist wird geboren, der noch fantastischer, noch erschütternder, noch ergreifender ist«, beschrieb Le Monde einmal dieses Phänomen.
Nelson Freire behauptet, Martha würde alles sehen und hören, auch wenn sie mit anderen Dingen beschäftigt sei. »Sie hat ein drittes Auge im Hinterkopf«, versichert er. Die beiden Freunde sprechen eine Mischung aus Spanisch und Portugiesisch miteinander. Sie nennen es »Portuganisch«. Nicht zu verwechseln mit dem nah verwandten, ebenso zwitterhaften »Spanigisisch«!
Ihre Charaktere sind trotz ihrer zahlreichen Gemeinsamkeiten sehr unterschiedlich. Martha sagt, dass Nelson eine als Hund verkleidete Katze sei. Er wirkt sehr sanft und freundlich, macht sich aber grundsätzlich nie von irgendetwas oder irgendjemandem abhängig. Und wehe dem, der es wagt, an einen seiner Schwachpunkte zu rühren! Nelson zufolge ist Martha eher ein Hund, der sich als Katze verkleidet hat. Sie scheint indifferent, raubtierhaft, fährt aus dem nichtigsten Grund ihre Krallen aus, fremdelt gern, macht den Eindruck, als wäre sie ständig auf der Hut; tatsächlich aber ist sie die Treue selbst und anhänglich bis zur Abhängigkeit. Ein echter Bernhardiner im Gewand einer Tigerin. Wenn sie miteinander streiten, benehmen sie sich auch wie Hund und Katze. Hätte die Schriftstellerin Colette die beiden gekannt, hätte sie sie vermutlich »Toby-Chien« und »Kiki-la-Doucette« genannt, wie in ihrem Tierdialog , und hätte vielleicht noch eine Fortsetzung geschrieben.
Seit ihrer ersten Begegnung hat Martha Nelsons Karriere unterstützt. Sie ist bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit ihm aufgetreten, hat seine Vorzüge gegenüber Konzertveranstaltern gepriesen, ihn den Verantwortlichen in den Plattenfirmen vorgestellt. »Von allen Pianisten, die ich kenne, ist er der beste.« Zu jener Zeit erlebte sie gerade einen der Höhepunkte ihrer Laufbahn, spielte wie eine Verrückte, sagte ab, wo sie nur konnte, um nicht völlig durchzudrehen. Er hingegen war nicht um jeden Preis auf Erfolg aus. Einerseits zufrieden mit dem eingefleischten Kreis seiner Zuhörer, jener Handvoll fanatischer Bewunderer, litt er andererseits darunter, in der Welt der Musik weniger angesehen zu sein als bestimmte Modepianisten. Nelson Freire ist ein absoluter
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