Martha Argerich
Weizen trennen zu können. Sie mochte auch nicht in die Haut eines um strenge Objektivität bemühten Richters schlüpfen, der die Tradition verteidigte und in Stein gemeißelte ästhetische Kriterien auf-
recht erhielt. Sie folgte allein ihrem Instinkt, ohne sich um
irgendetwas anderes zu scheren, und blieb vor allem Künstlerin. Ihre Haltung, die keine Pose war, sondern Ausdruck ihrer
Authentizität, stieß sich jedoch an einer Klippe: Beim Warschauer Wettbewerb ist der alleinige Star Frédéric Chopin! Diese Prämisse wird niemals unterlaufen. Abgesehen davon, dass Chopin selbst, seine Persönlichkeit und sein Genie, nichts und niemanden neben sich dulden würden. »Dieser Wettbewerb ist anders als die anderen«, gibt Martha zu. »Der beste Pianist und der beste Chopin-Interpret, das muss nicht notwendigerweise ein und dieselbe Person sein.«
Die Juroren waren sehr geteilter Meinung über die Darbietung des Ivo Pogorelich. Die meisten zeigten sich beeindruckt, wenn nicht gar entzückt von seiner pianistischen Souveränität, doch es gab auch solche, die klar und deutlich ihren Widerwillen äußerten. Einer seiner Kritiker gab den Startschuss für die erregt geführten Beratungen: »Er könnte gewinnen, aber ich bin
dagegen!« Andrzej Jasinski, Klavierprofessor von Krystian
Zimerman (Wettbewerbssieger von 1975), enthielt sich der Stimme mit den Worten: »Ich fühle mich nicht in der Lage, diesen Menschen zu beurteilen.« Er hätte auch sagen können: »Wir haben es hier mit einem ganz und gar außergewöhnlichen Künstler zu tun, nicht mit einem Kandidaten wie alle anderen.« Jasinski war im Übrigen der Präsident der Jury. Für Martha war die ganze Situation so absurd, dass sie um ein Haar eine Krise ausgelöst hätte, indem sie die gnadenlose Mechanik des Wahlverfahrens in Frage stellte. Irgendwann im Laufe der Diskussion sagte einer der Juroren: »Ich bin zwar kein Freund von einem Salon-Chopin, aber das hier ist für mich eindeutig Discomusik.« Eine weitere Stimme erhob sich und setzte noch eins drauf: »Ich finde das zum Kotzen.« Etwas differenzierter entgegnete ein Dritter: »Chopin ist meine Leidenschaft. Ich habe nichts gegen Pogorelich, aber ich kann das, was er da gemacht hat, nicht gutheißen, ohne mich selbst zu verleugnen.« Martha drehte sich zu Sergej Dorenskij vom Moskauer Konservatorium um, der bis dahin geschwiegen hatte: »Er erinnert mich an Horowitz.« Doch der Doyen der Jury schüttelte nur den Kopf. »Nein, Horowitz
ist da oben« (er zeigte gen Himmel), »und der da ist hier unten« (er zeigte zu Boden).
Ivo Pogorelich war 1980 keineswegs ein Kandidat, der aus dem Nichts aufgetaucht wäre. Er hatte bereits den Internationalen Klavierwettbewerb im italienischen Terni gewonnen und den ersten Preis in Montreal errungen. Er hatte gerade seine Lehrerin geheiratet, Alice Kezeradze, die sehr viel älter war als er. Die Schülerin Alexander Silotis, der wiederum ein berühmter Lizst-Schüler gewesen war, hatte Ivo die Kunst beigebracht, das Klavier wie eine menschliche Stimme erklingen zu lassen und es gleichzeitig in den Rang eines ganzen Orchesters zu erheben.
Nach der Sitzung der Jurymitglieder war klar, dass der kroatische Pianist nicht am Finale würde teilnehmen können. Zwölf Pianisten waren auserwählt worden, doch er war nicht darunter. An Punkten hatte er bei der Prüfung zwar die meisten »25« bekommen (die Bestnote), aber die Handvoll »1« und »3«, die er ebenfalls erhalten hatte, reichte aus, um seinen Durchschnitt so herabzusenken, dass er ausgeschlossen wurde. Martha war zutiefst enttäuscht. Bevor einer ihrer Kollegen etwas sagen konnte, ergriff sie das Wort: »Entschuldigen Sie, ich habe mich sehr geehrt gefühlt, an diesem Auswahlverfahren teilnehmen zu dürfen, aber bei allem Respekt für die hier versammelten Persönlichkeiten schäme ich mich mittlerweile dafür, Mitglied dieser Jury zu sein.« Sprach’s und verließ den Raum.
Dieser Schritt zog Konsequenzen nach sich, mit denen die Pianistin nicht im Entferntesten gerechnet hatte. Der Skandal, den ihr Austritt aus der Jury hervorrief, warf dunkle Schatten auf die Siegerliste und sorgte dafür, dass die ganze Welt sich für Ivo Pogorelich interessierte. Die Deutsche Grammophon, die tradi-
tionsgemäß den Gewinner des Wettbewerbs unter Vertrag nimmt, beeilte sich, auch den ruhmreichen Paria sogleich zu verpflichten. Die Aura der argentinischen Pianistin kombiniert mit dem guten Aussehen des jungen Mannes führte zu
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