Martha Argerich
war Martha regelrecht entsetzt über seine »Macho-Art«, Ravels Valse zu spielen. Geschrei und Türenknallen bildeten den Zwischenakt, bevor sie wieder die Bühne betraten, mit zerrauften Haaren und geröteten Augen, um sich dann wie zwei Raubtiere auf die Tasten zu stürzen. In solchen Momenten klangen manche Akkorde wie Fausthiebe ins Gesicht. »Die Leute werden das noch mitkriegen!«, sorgte sich Martha. In Genf, bei einer Probe der Visions de l’Amen von Messiaen, war Rabinovitch derjenige, der völlig in der Musik aufging. Während er sich in die Partitur versenkte, beanstandete sie irgendwelche Kleinigkeiten oder schwätzte mit dem Notenumblätterer. Das war ihre Art, die Dinge auf ein normales Maß herunterzuschrauben, doch er war zutiefst gekränkt.
Wenn Martha heute an ihren ehemaligen Gefährten zurückdenkt, dann nicht ohne einen gewissen Groll. »Er war grausam und egoistisch.« Doch wagt man es, ihn in ihrer Anwesenheit zu kritisieren, verteidigt sie ihn sofort. Auch nach ihrer Trennung unterstützte sie ihn weiterhin als Dirigenten mit gemeinsamen Auftritten. Allerdings wurde er ohne ihr Beisein von den Veranstaltern nie ein zweites Mal eingeladen, was er nur schwer verdauen konnte. Zum Glück hatte er Humor. Einmal tauschten sich die Pianisten Krystian Zimerman, Nicolas Economou, Alexandre Rabinovitch und Martha Argerich über das Pech ihres Kollegen Maurizio Pollini aus, der entdeckt hatte, dass sein Agent ihn betrog. Zimerman meinte, dies sei nicht weiter schlimm, da der Agent ihm schließlich zahlreiche gut dotierte Auftritte besorgt habe. Der stets politisierte Economou begehrte auf: »Nicht die Agenten verschaffen uns Arbeit, sondern wir ihnen!« Und Rabinovitch fügte trocken hinzu: »Genau aus dem Grund gebe ich so selten Konzerte …«
Letztlich ist Martha aber der Ansicht, dass nicht er allein am Scheitern ihrer Beziehung schuld war. »Es braucht immer zwei, um Tango tanzen zu können.« Er war der einzige ihrer Männer, der den gleichen Rhythmus gelebt hat wie sie, denn auch er ist ein Nachtmensch und Nachtarbeiter. Aber keiner schaffte es so gut wie er, die Masochistin in ihr zu wecken.
Warschau, die Zweite
Der Pogorelich-Skandal
Im Oktober 1980, fünfzehn Jahre nach ihrem Sieg beim Warschauer Klavierwettbewerb, wurde Martha eingeladen, den Ort, an dem man sie zur Königin gekürt hatte, erneut zu besuchen – diesmal als Jurymitglied. Die Pianistin, die selten vor nachmittags das Bett verlässt, war jeden Morgen auf die Minute pünkt-
lich. Allerdings hatte sie sich ausbedungen, nicht schon bei der ersten Runde anwesend sein zu müssen, da sie einen Auftrittstermin hatte. Auf Bitten der Organisatoren hatte sie zugestimmt, beim traditionellen Eröffnungskonzert des Wettbewerbs das Klavierkonzert Nr. 1 von Tschaikowsky unter Leitung von Kazimierz Kord zu spielen. Die Musiker sind bei diesem Anlass in der Wahl des Komponisten völlig frei – Hauptsache, es ist nicht Chopin!
In den ersten Tagen präsentierten sich einhundertneunundvierzig Kandidaten aus siebenunddreißig Ländern, einer aufgeregter als der andere. Unter ihnen ein gewisser Ivo Pogorelich, ein in Belgrad geborener kroatischer Pianist, der seit seinem elften Lebensjahr das Moskauer Konservatorium besuchte. Am Abend ihrer Ankunft in der polnischen Hauptstadt hatte Martha bereits von einem außergewöhnlichen Kandidaten reden hören. »Er hat mit niemandem Ähnlichkeit«, hatte eine Freundin ihr gesagt. Neugierig geworden, konnte sie ihn am nächsten Morgen endlich erleben. Der junge Mann war in der Tat faszinierend: Er sah gut aus, war frech, stolz, exzentrisch und sich mit seinen gerade einmal einundzwanzig Jahren seiner selbst und seines Talents absolut sicher. Mit seiner schwarzen Lederhose und dem weit geschnittenen weißen Hemd sah er aus wie ein kleiner, unversehens in der Wüste gelandeter Prinz. Sein extrem freier Umgang mit den Tempi, seine reinrassigen Klänge und originellen Phrasierungen waren nur als kühn zu bezeichnen und verrieten eine außergewöhnliche musikalische Intelligenz und unvergleichliche Virtuosität. Martha war wie elektrisiert. »Ein Genie!«, murmelte sie. Doch nicht alle ihrer Kollegen waren der gleichen Ansicht, denn Pogorelich, der sich von einem Wagnis ins nächste stürzte, störte schlicht und einfach die etablierte Ordnung.
Im Gegensatz zu den meisten der auf der Jurybank versammelten ehrenwerten Persönlichkeiten wollte Martha nicht für sich beanspruchen, auf Anhieb die Spreu vom
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