Martha Argerich
Gide hatte in der Tat alles, um ihr zu gefallen: Er war homosexuell, Pianist, Wahrheitsfanatiker und Chronist seiner Epoche. Was die Russen betraf, so verschlang sie Dostojewski. Die Universen der beiden Autoren sind eng miteinander verzahnt, wofür die zahlreichen Artikel einen Beweis liefern, die André Gide über den Autor von Schuld und Sühne schrieb, den er für den größten Schriftsteller seiner Zeit hielt und dessen Einfluss auf sein Werk er freimütig zugab. Die beiden Giganten waren gleichermaßen »besessen« von der Lektüre der Evangelien. Die Frage des »acte gratuit« kam für sie beide einer Obsession gleich. Martha fand in ihren Büchern ein Echo auf die mystische Krise ihrer jungen Jahre, die eng mit ihrer Suche auf ästhetischer Ebene verknüpft war.
Es gibt noch einen weiteren Aspekt, diesmal einen politischen, der die Faszination der Pianistin für Russland und Frankreich
nährt: das revolutionäre Ideal, die internationalistische Utopie und das Umsetzen der Gedanken in die Tat. Spontan war
Martha immer aufseiten der Schwachen und bemühte sich, so gut es ihr möglich war, das System zu verändern oder zumindest gegen offensichtliche Ungerechtigkeiten anzugehen. Sie hat bis heute eine radikale Sicht vieler Dinge beibehalten. »Die Rechte – das ist das Geld! Davon kann mich keiner abbringen.« Für sie sind die beiden Politiker, die das späte zwanzigste Jahrhundert am nachhaltigsten geprägt haben, Gorbatschow und Mitterand. Wieder ein Russe und ein Franzose.
Die Anziehung, die das kommunistische Russland auf die damals Sechzehnjährige ausübte, lag auch darin begründet, dass dieses Land die außergewöhnlichsten Musiker hervorgebracht hatte. Als ihr die Möglichkeit geboten wurde, sich auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs zu begeben, zögerte sie nicht
eine Sekunde. Ruggiero Ricci verhalf ihr dazu. Der große italo-amerikanische Geiger, der heute mit über neunzig Jahren ein friedliches Rentnerdasein in der Nähe von Los Angeles führt, lebte in Genf, als Martha dort gerade den Klavierwettbewerb gewonnen hatte. Seine ursprünglich aus Argentinien stammende Frau Walma hatte sich mit Juanita angefreundet.
In San Francisco geboren, hatte Ricci sein Studium bei Louis Persinger begonnen, einem Schüler Eugène Ysaÿes und Lehrer Yehudi Menuhins. Sein Vater, wahrlich nicht bescheiden, war zu Persinger gegangen, um ihm einen Handel vorzuschlagen: »Was kriege ich von Ihnen, wenn Sie sich um meinen Sohn kümmern dürfen?« Und Persinger nannte ihm tatsächlich eine Summe! Dieser padre padrone war in Italien Posaunist in einem Laienblasorchester gewesen und hatte seinem Sohn selbst ein rudimentäres Basiswissen auf der Geige beigebracht – so wie er es auch bei seinen anderen Kindern mit dem Violoncello, der Flöte und der Trompete getan hatte. Zeit seines Lebens darunter leidend, nie professionell Musik gemacht zu haben, hatte sich Ricci senior noch mit fünfundsiebzig Jahren in den Kopf gesetzt, als Sänger in der Carnegie Hall aufzutreten – und er hat es geschafft! Ruggiero Ricci unternahm seine erste Europatournee mit vierzehn Jahren. Er verübelte es seinem Vater sehr, ihn so gequält und ausgebeutet zu haben, weshalb er einmal sagte, man solle die Eltern von Wunderkindern ein für alle Mal erschießen, dann wäre endlich Schluss mit diesen Qualen. Seine Karriere war außergewöhnlich, und er nahm eine beachtliche Anzahl von Schallplatten auf, alle von großer Qualität. Riccis Geigenspiel war eines der reinsten, kantabelsten und ausdrucksvollsten, das man sich vorstellen kann. Noch im hohen Alter besaß er eine perfekte Intonation, doch er hörte nie auf, nach der Wahrheit des Klangs zu suchen. In Martha erkannte er auf Anhieb seine »musikalische Heldengestalt«. Auch heute noch spricht er davon, wie sehr dieses Mädchen, das nur halb so alt war wie er selbst, ihn in seiner Art beeinflusst habe, bei jedem Konzert alles wieder neu in Frage zu stellen, sich niemals auf die Routine oder auf scheinbare Errungenschaften zu verlassen. Als also Ruggiero Ricci Anfang 1960 eingeladen wurde, in der Sowjetunion aufzutreten, schlug er der jungen Pianistin vor, ihn zu begleiten. Er war zweiundvierzig Jahre alt, Martha achtzehn. Sie war begeistert von der Vorstellung, die Heimat von Dostojewski, Prokofjew und Lenin kennenzulernen.
Die Tournee dauerte fast einen Monat und führte sie in zehn sowjetische Großstädte: Moskau, Leningrad, Tiflis, Odessa … Nach einer Woche hatte Martha genug
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