Martha Argerich
einer regelrechten Entfesselung der Medien. Während des darauffolgenden Jahres gab Pogorelich weltweit über fünfhundert Interviews. Dies war zwar nicht der erste Skandal bei einem Wettbewerb, doch normalerweise geht es bei solchen Streitigkeiten um die Kür des Siegers. So hatte etwa Alfred Cortot 1933 unter lautem Protest die Jury des Wiener Klavierwettbewerbs verlassen, weil Dinu Lipatti nur den zweiten Platz erhalten hatte.
In Warschau hatte Martha nicht zulassen wollen, dass einem so großen Talent die Chance verwehrt wurde, seine Kunst bis zum Ende des Wettbewerbs unter Beweis stellen zu dürfen. In der Kunst bedeutet Demokratie nicht notwendigerweise
Gerechtigkeit. Doch für Martha ist Gerechtigkeit viel wichtiger als die Einhaltung von Regeln, selbst wenn ein Verstoß dagegen zum Chaos führen sollte. Nikita Magaloff, der stellvertretender Vorsitzender der Jury war, bedauerte noch am selben Abend, es der Pianistin nicht gleichgetan zu haben. »Das ist eben nicht seine Art«, so deren nachsichtiges Urteil über den Freund. Leicht verstört angesichts des Sturms, den sie ausgelöst hatte, schrieb Martha ein paar Tage nach dem Eklat einen Brief an die Warschauer Veranstalter, um sich für ihr Verhalten zu entschuldigen. Juanita indes, mit ihrem untrüglichen Gespür für solche Dinge, witterte sofort die Vorteile, die dem jungen Mann aus der Situation erwachsen würden. »Das wird Ihre Karriere mit Sicherheit mehr vorantreiben, als wenn Sie den ersten Platz gewonnen hätten«, ließ sie Pogorelich wissen.
Das Ergebnis des Wettbewerbs war wie folgt: 1. Platz – Dang Thai Son (Vietnam); 2. Platz – Tatjana Shebanova (UdSSR); 3. Platz – Arutyun Papazyan (UdSSR); 4. Platz – nicht belegt; 5. Platz – Akiko Ebi (Japan) und Ewa Poblocka (Polen) ex aequo ; 6. Platz – Erik Berchot (Frankreich) und Irina Petrova (UdSSR) ex aequo . Es gab in diesem Jahr jede Menge ex aequos : beim Preis des polnischen Rundfunks für die »Beste Aufführung der Mazurken«, beim Preis der polnischen Chopin-Gesellschaft für die »Beste Aufführung einer Polonaise« und bei einem nicht näher benannten Preis für ein Konzert, das die Jury vorgab. Nicht weniger als acht lobende Erwähnungen, von denen eine aus lauter Mitleid auch an Ivo Pogorelich ging. Die Jury hatte sichtlich Schwierigkeiten, wie sie mit seinem Fall umgehen sollte. Marthas Weggang hatte einen regelrechten Schock unter den Mitgliedern ausgelöst. »Wenn man zu mehreren ein Pferd zeichnen will, kommt oft ein Dromedar heraus« lautet einer der Lieblingssprüche von Pierre Boulez, der weder Wettbewerbe noch halbherzige Entscheidungen mag. Immerhin hatte das Publikum seinen eindeutigen Favoriten: Dieser war »Pogo« und niemand sonst. Die Karten für sein erstes Konzert in Warschau waren im Nu ausverkauft, während der beklagenswerte Wettbewerbssieger, der Vietnamese Dang Thai Son, an dessen Namen sich heute niemand mehr erinnert, kaum den Saal füllen konnte.
Marthas Begeisterung für das Talent ihres Schützlings nahm bald obsessive Züge an. Sie erzählte jedem, der es hören wollte, von ihm und seiner Kunst und spielte sämtlichen Bekannten seine Platte vor. 1981 gab Ivo Pogorelich ein triumphales
Debüt in der New Yorker Carnegie Hall. Seine Konzerte versetzten das Publikum in regelrechte Rauschzustände, doch hin und wieder mengten sich auch Buhrufe unter den Jubel. Mit der Zeit wurde der kroatische Pianist sogar noch radikaler, indem er sich extrem langsame Tempi gestattete, bis an die Grenze der Unterbrechung, so wie in der Sonate Nr. 32 op. 111 von Beethoven, die bei ihm doppelt so lang andauerte wie üblich. Er gründete eine Stiftung, um junge kroatische Musiker zu fördern, ein Festival in Deutschland, um unbekannte Talente mit berühmten Kollegen zusammenzubringen, einen Klavierwettbewerb in Kalifornien, um neue Tastenstars ins Rampenlicht zu stellen. Er engagierte sich in Sarajevo, wo er das Rote Kreuz unterstützte und Konzerte gab, damit der Wiederaufbau der Stadt vorangetrieben werden konnte. Als 1996 seine Lehrerin und Ehefrau starb, brach er seine Karriere vorübergehend ab, um nach seiner Rückkehr auf die internationalen Bühnen zu beweisen, dass er nichts an Verve und Einzigartigkeit eingebüßt hatte.
Vor einiger Zeit hat er den Skandal um den Warschauer
Chopin-Wettbewerb wieder aufgekocht mit dem Versuch, seinen »Prozess« erneut aufzurollen und die Bewertungen jenes Jahrganges überprüfen zu lassen. »Ich will die Wahrheit wissen, mich
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