Martha Argerich
endlich von dem Schatten befreien, der seit damals auf mir liegt, denn ich kann nicht verstehen, wie ich, nachdem ich den Casagrande-Wettbewerb in Terni und den Klavierwettbewerb von Montreal gewonnen habe, in Warschau so behandelt werden konnte«, wurde er von der polnischen Tageszeitung Rzeczpospolita zitiert. »Was will er denn eigentlich?«, fragte der Organisator des Wettbewerbs Albert Grudzinski daraufhin irritiert. »Einen neuen Eklat? Niemand kann die Entscheidung der Jury revidieren; deren Urteil ist genauso endgültig wie ein höchstrichterlicher Beschluss.« Als wollte er seiner Missbilligung damit zusätzlich Ausdruck verleihen, änderte Ivo Pogorelich, der im Rahmen des Chopin-Festivals in Warschau auftrat, in letzter Minute sein Programm: Statt die Sonate Nr. 3 des polnischen Komponisten zu spielen, gab er an jenem Abend die Sonate Nr. 2 von Rachmaninow.
Martha ist ihrem einstigen Schützling bis heute äußerst zugetan. Als Mitwirkender beim Festival von Lugano, seiner derzeitigen Heimatstadt, und damit beim Progetto Martha Argerich kam Pogorelich in ihre Garderobe gestürzt, um die Pianistin zu
begrüßen und zu umarmen. Mit einem schrägen Seitenblick auf die Veranstalter sagte er dann: »So, die haben jetzt genug von dir gehabt. Nun bin ich dran!« Der kroatische Pianist hatte Pläne für eine internationale Tournee im Koffer, bei der die beiden Namen Argerich und Pogorelich miteinander vereint stehen sollten. Eine großartige Idee für eine Attraktion von besonderem Reiz!
Moskau
Russische Freundschaften und der Tod Juanitas
Schon als Kind war Martha fasziniert von Russland. Ihre Mutter kam bekanntlich aus Weißrussland, von wo ihre Familie aus Angst vor Pogromen geflüchtet war. Bereits sehr früh entwickelte die Pianistin ein Faible für die Musik Prokofjews. Vor allem das Violinkonzert Nr. 1 D-Dur hatte es ihr angetan, ein wahres musikalisches Feenmärchen, das sie stundenlang auf dem kleinen Phonokoffer der Familie hören konnte. Noch ein anderes Stück hatte ihre frühreife Seele betört und ihren Sinn für alles Fabelhafte, Mystische berührt: Ravels Daphnis et Chloé . Wenn Martha sich bei ihren Auftritten schon immer auf vertrautem Terrain gefühlt hat, wenn sie Prokofjew oder Ravel spielte, so liegt das daran, dass ihr deren Sprache seit frühester Kind-
heit geläufig ist. Beim Spielen des Klavierkonzerts Nr. 3 des
einen oder des Klavierkonzerts G-Dur des anderen stiehlt sich manchmal ein Lächeln auf ihre Lippen, weil sie in jenen Werken die Verbundenheit mit einem ihr Nahestehenden spürt, die Stimme eines engen Verwandten hört, in den Spiegel ihrer
eigenen Unschuld blickt. Beethoven indes war ihre erste große Liebe. Den coup de foudre , den sein Klavierkonzert Nr. 4 bei ihr auslöste, vergaß sie nie. Ihr ganzes Leben lang stand sie im Bann des Bonner Meisters. Was Schumann betrifft, so wurde er ihr Seelenverwandter, ihr Bruder im Geiste, im Klang. Doch Prokofjew und Ravel sind Teil ihrer Familie. »Sie lieben mich einfach«, sagt sie gern, um diese bedingungslose Hingabe zu erklären.
Was die beiden Komponisten verbindet, ist die Reinheit des Ausdrucks, das Fehlen jeglicher Sentimentalität. Man stellt sie sich in der Begegnung ein wenig distanziert vor, sparsam mit Worten: Bei Prokofjew sind sie schneidend, bei Ravel gewählt und wohlgesetzt. Sie lieben beide Märchen und alte Legenden. Ihr Gefühl für Rhythmus und Farben vereint sie einmal mehr. Ganz abgesehen von ihrer Liebe zu Kindern, die bei Ersterem zu Peter und der Wolf und bei Letzterem zu Ma mère l’oye geführt hat. Die idealen Spielkameraden für eine Künstlerin, die sich weigert, erwachsen zu werden.
Die Faszination für Russland und Frankreich hat sich in Marthas neugierigem, begeisterungsfähigem und offenem Charakter vermutlich miteinander vermengt. Tatsache ist: Am Hof von Sankt Petersburg wurde Französisch gesprochen, Tolstoi wechselte ohne Schwierigkeiten von der Sprache Molières in die Puschkins, die russischen Komponisten (Mussorgski allen voran) nährten sich von der Milch der Modernen Instrumentation und Orchestration von Berlioz … Hinzufügen könnte man noch, dass Prokofjew und Poulenc befreundet waren und in ihrer Bewunderung für den jeweils anderen voneinander abgeschrieben haben.
Mit dreizehn Jahren war Martha stark beeindruckt von der Lektüre André Gides. Der Immoralist hatte ihr Interesse an der Abweichung von der Norm geweckt, Die enge Pforte ihr christliches Bewusstsein angesprochen.
Weitere Kostenlose Bücher