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Martha Argerich

Martha Argerich

Titel: Martha Argerich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bellamy
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dem neuen Haus verbracht hatte, zum Studium nach Princeton in den USA .
    Für Martha vereinte Brüssel alle Vorteile einer internationalen Kapitale mit dem Charme einer Provinzstadt. Sie gewöhnte sich an, den Thalys zu nehmen, der eine Stunde und zwanzig Minuten vom Brüsseler Gare du Midi bis zum Flughaften Paris-Charles-de-Gaulle braucht, von dem aus Flugverbindungen in alle vier Himmelsrichtungen bestehen. Allerdings vermochte sie auch das nicht davon abzuhalten, weiterhin zahlreiche Flüge zu verpassen …
    Aus dem Haus in Brüssel sollte dieses Mal keine Wohn-
gemeinschaft mehr werden. Mit zunehmendem Alter war Martha
die Unruhe, die das ewige Kommen und Gehen der Genfer WG -Genossen mit sich brachte, ein wenig leid geworden. Doch sie wollte nach wie vor nachts Gäste empfangen können, die Alexandre Rabinovitch dann unter ihrem heftigen Protest bei Morgengrauen hinauswarf. Denn wenn Martha jemanden hat, der an ihrer Stelle den Ordnungshüter mimt, neigt sie dazu, ihm diese Aufgabe zu erschweren, ja sie stellt womöglich sogar seine Befugnisse in Frage, falls ihr seine Vorgehensweise übereilt erscheint. Doch auch in dieser Hinsicht ist sie gemäßigter geworden. Noch immer übernachtet in ihrem Haus gern mal ein Pianist auf der Durchreise, ein Freund ohne Geld, eine Bekannte mit Depressionen oder ein entfernter Cousin auf der Suche nach Arbeit oder nach einer Frau. Martha hat schon die verrücktesten Leute aus sämtlichen Ecken der Welt bei sich aufgenommen. Deren Schicksalsschläge, ihre mehr oder weniger dramatischen
Geschichten, ihre Affären haben ihr eigenes Leben maßgeblich berührt. Um die zwischenmenschlichen Probleme ihrer Gäste zu lösen, versucht sie schon mal, den einen mit der anderen zu verkuppeln, doch das verschlimmert das Chaos in der Regel nur, führt zu neuen Verwicklungen und zu Zeitverlust für alle Beteiligten. Weil Martha nicht die furchterregende Autorität ihrer
Mutter besitzt, wird sie von solchen pubertären Problemen regelrecht überschwemmt. Ständig zerbricht sie sich den Kopf für andere, fühlt sich zerrissen von deren Schwierigkeiten oder macht sich schreckliche Sorgen – und erzählt dann gern dem Nächstbesten brühwarm die ganze Geschichte. »Mama, das ist Radio Argentina!«, sagen ihre Töchter dann lachend. Doch ohne diese fast schon übermenschliche Fähigkeit zur Empathie wäre
Martha wohl kaum in der Lage, sich mit so viel Intuition in
jeden einzelnen Komponisten einzufühlen.
    Das Haus in Brüssel ist voller Klaviere. Im Erdgeschoss stehen zwei Steinway-Flügel Kopf an Kopf, die unter Bergen von Noten fast verschwinden. Dort arbeitet Martha meistens. Ihr Freund Jurg Grand hat sie eines Abends »heimlich« belauscht, wie sie Schubert spielte, und der Journalist Étienne Moreau, der mit Tränen in den Augen auf der Treppe saß, kann ihre Interpretation von Chopins Ballade Nr. 4 einfach nicht mehr vergessen, die sie leider nie aufgenommen hat. In Genf konnte Martha es nicht ertragen, allein zu arbeiten, und brauchte immer jemanden, mit dem sie während des Spielens reden konnte. In Brüssel wollte sie nicht mehr, dass ihr jemand zuhört. Hier zieht sie sich an ihr Klavier zurück, nachdem sie sich vorher vergewissert hat, dass der Fernseher oder das Radio im Wohnzimmer laut genug ist, um ihre musikalische Intimität vor den nach wie vor zahlreichen Besuchern zu schützen. Es ist noch nicht lange her, da hat sie die Chopin’schen Mazurken auf ihr Notenpult gestellt …
    Arbeitet sie wirklich? Marthas Spiel ist so natürlich, dass man denken könnte, es beruhe lediglich auf der Inspiration des jeweiligen Augenblicks. Was jedoch ganz und gar nicht der Fall ist. Gewiss, sie muss nicht üben, um ihre Technik zu verfeinern. Doch auch sie muss die Stücke erst »reinigen«, bevor sie sie in der Öffentlichkeit spielt, selbst solche, die sie seit einem halben Jahrhundert beherrscht. Jedes Stück geht sie im Schneckentempo durch, vergewissert sich seines Rhythmus’, nimmt die schwierigen Passagen noch einmal genau unter die Lupe, um sie dann ebenso flüssig wie den Rest wiedergeben zu können. Was für ein ergreifendes Erlebnis, sie Beethovens Klavierkonzert Nr. 1 am Vorabend eines Konzerts in einem extrem langsamen Tempo, fast schon stockend spielen zu hören! Mit diesem Werk beschäftigt sie sich, seit sie acht Jahre alt ist. Doch als demütige und ernsthafte Künstlerin weiß sie, je größer ihre Kenntnis der inneren Struktur eines Stückes ist, desto größer ist auch

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