Martha Argerich
Scaramouche , Lutosławskis Variationen über ein Thema von Paganini … In der Schar von Marthas aufgewühlten Bewunderern in Moskau hatte sich auch der kubanische Pianist Mauricio Vallina befunden, der damals in Russland studierte; ein großartiger Künstler, der inzwischen in Brüssel lebt und einer von Marthas engsten Freunden geworden ist.*
* Mauricio Vallina hat ein wunderbares Programm im Rahmen der Kollektion »Martha Argerich Presents« bei EMI aufgenommen: Rachmaninows Variationen über ein Thema von Chopin , Schumanns Carnaval op. 9 und Schulz-Evlers Arabesken über Themen des Walzers »An der schönen blauen Donau« .
Bei dem Konzert in Leningrad spielten Martha Argerich und Alexandre Rabinovitch die Visions de l’Amen von Olivier Messiaen. Initiiert von einigen der »neuen« Musik feindlich gesinnten Professoren (das Stück datiert von 1943!) wurden im Stück unangebrachte Bravorufe laut – wohl um dessen Überlänge zu betonen und ein vorzeitiges Ende herbeizuführen. Erbost verließ Rabinovitch auf der Stelle die Bühne. Martha blieb noch einen Moment auf dem Podium sitzen, sprachlos, peinlich berührt davon, die Mehrheit des Publikums für die Rücksichts-
losigkeit einiger weniger büßen lassen zu müssen. Dann tat sie es ihm nach.
Später am Abend flüsterte die Mutter von Gidon Kremer Rabinovitch mit betrübter Miene etwas ins Ohr. »Kein Wort davon zu Martha!«, entgegnete dieser sofort. Seiner Gefährtin gegenüber sagte er nur: »Wir fliegen morgen nach Paris zurück.« Fünf Minuten vor der Landung auf dem Flughafen Paris-Charles-de-Gaulle verkündete Rabinovitch der Pianistin, dass Juanita am Vorabend ihren letzten Atemzug getan habe. Der Aufprall der Räder auf dem Rollfeld übertönte ihr Schluchzen.
Brüssel
Die Straße der Pianisten
Weil Martha die letzten Lebensstunden ihrer Mutter nicht mit
ihr gemeinsam verbracht hatte, wurde sie nun von heftigen Schuldgefühlen geplagt. Juanita war an einem Hirntumor erkrankt, der sehr bald im ganzen Körper Metastasen gestreut hatte, sodass sie eines schnellen Todes gestorben war. Sie hatten eine extrem konfliktreiche und schwierige Mutter-Tochter-Beziehung geführt. Beim Ordnen von Juanitas Hinterlassenschaften musste Martha plötzlich an eine winzige Begebenheit aus ihrer beider Leben denken: Ihre Mutter, die nie in ihrem Leben einen Kochtopf angefasst hatte, war bereit gewesen zu lernen, wie man ein Rindercurry zubereitet – Marthas Lieblingsgericht, während sie mit Lyda schwanger gewesen war! Ein im besten Sinne mütterlicher Reflex, der selten genug vorgekommen war, aber allein dazu gedient hatte, der Tochter eine Freude zu machen. Martha war zutiefst gerührt von dieser Erinnerung und versuchte sich weitere Momente der Verbundenheit ins Gedächtnis zu rufen, so etwa ihre gemeinsamen Lachanfälle. Später, beim Ausfüllen von Marcel Prousts Fragebogen, gab die Pianistin auf die Frage »Ihre Lieblingsheldinnen in der Wirklichkeit?« zur Antwort: »Meine Mutter, Marie Curie und alle unbekannten Heldinnen.«
Juanitas Tod markierte das Ende einer Epoche. Ob in der Salle Pleyel oder im Théâtre des Champs-Élysées: Überall fehlte mit einem Mal die Erscheinung der exzentrischen alten Dame mit dem viel zu hohen Zigarettenkonsum und den wissbegierigen jungen Künstlern im Schlepptau, die ihre lapidaren Kommentare zu allem und jedem hören wollten. Was für Gewitterstürme und Missverständnisse hatte es zwischen Mutter und Tochter gegeben! Immer wieder neue Schreckensgeschichten, immer wieder irgendwelche Skandale.
Mehr als ihr halbes Leben hatte Martha sich vor Juanitas gefräßiger Präsenz schützen müssen – was sie nicht daran gehindert hatte, voller Bewunderung für die geistige Unabhängigkeit und Selbstlosigkeit ihrer Mutter zu sein. Weil Juanita alle ihre Karten auf die Karriere ihrer Tochter gesetzt hatte, betrachtete sie sie als ihr Eigentum. Mit ansehen zu müssen, wie Martha ihre Zeit mit Leuten vergeudete, die ihr keine Vorteile brachten, machte sie schier verrückt. Selbst die »Aufdringlichkeit« ihrer Enkelinnen erzürnte sie: Sie warf den Mädchen vor, ihre Mutter auszunutzen. Irgendwann hatte Juanita beschlossen, dass es genug sei mit all diesen »Parasiten« in der Avenue Jules-Crosnier in Genf, und sämtliche WG-Genossen Marthas einfach vor die Tür gesetzt. Aufs Äußerste erbost, aber nicht in der Lage, ihrer Mutter die Stirn zu bieten, flüchtete sich Martha zu ihrer Freundin Aliocha Golovine. Gewiss, die
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