Martha Argerich
Pianistin in ihr wusste, dass sie der Mutter zu großem Dank verpflichtet war, aber die Tochter konnte darauf nur mit Groll reagieren.
Gidon Kremer hatte sich angewöhnt zu sagen: »Wenn ihre Mutter erst mal nicht mehr lebt, wird Martha eine ganz andere werden.« Was so viel heißen sollte, wie, dass sie dann weniger chaotisch, weniger kindisch sein würde. Doch der große
Cellist sollte sich täuschen. Nur Marthas Gesichtsausdruck hat sich nach Juanitas Tod gewandelt: Er ist melancholischer geworden. Ihre Mutter war die Erste in einer langen Reihe trauriger Verluste, zu denen ihre beste Freundin Diane zählte, dann Nicolas Economou, der die berühmte Nussknacker-Suite für sie transkribiert hatte, schließlich im Jahr 2000 ihr Vater und drei Jahre später mit zwölf Tagen Zeitunterschied ihr Bruder Cacique und ihr Freund Jurg Grand aus Lugano, Erfinder des Progetto
Martha Argerich und ein begnadeter Plattenproduzent. Martha
wurde bewusst, dass auch sie nicht unsterblich ist, und dieser Gedanke belastet sie seither. Die Menopause platzte mitten in diesen langen Trauermarsch hinein und nahm ihr noch dazu einen Teil ihrer Weiblichkeit.
Die Einäscherung Juanitas fand auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise statt, im Rahmen einer Feier, die katholische und jüdische Riten miteinander vereinte und auf diese Weise behutsam mit einer jahrelangen Verweigerung brach. Zur selben Zeit nahm Martha die Visions de l’Amen des sehr katholischen Olivier Messiaen mit dem Juden Rabinovitch auf. Jenes Werk, das sie beide zur Stunde von Juanitas Tod in Russland wie in einer Art Vorahnung gespielt hatten.
Juanita hatte sich nicht damit zufriedengegeben, aus ihrer Tochter eine weltberühmte Pianistin zu machen. Anhand ihres eigenen Beispiels hatte sie ihr auch vermittelt, dass man sich um seine Mitmenschen zu kümmern habe, allen voran um diejenigen, mit denen das Schicksal es besonders schlecht meinte. Als der argentinische Komponist Alberto Ginastera starb, war seine Witwe vollkommen mittellos. Juanita stellte sofort eine Spendenaktion auf die Beine, um ihr zu helfen. Kaum dass es irgendjemandem auffiel, hatte Martha den Staffelstab übernommen.
In der Karwoche des Jahres 1989 verbrachten Martha, ihre Tochter Stéphanie und Alexandre Rabinovitch ein paar Tage bei Martín und Lyl Tiempo in Brüssel. Martha fühlte sich besonders zu dem Sohn ihrer Freunde hingezogen, dem jungen Sergio, der im Alter von drei Jahren sein erstes Konzert in Caracas gegeben hatte. Er ist heute ein anerkannter Klaviervirtuose und bildet zusammen mit seiner Schwester Karin Lechner, die ebenfalls Pianistin ist, ein hervorragendes Duo. Aber Martha freute sich auch, ihren alten Freund Martín wiederzusehen. Die Tiempos hatten Argentinien 1976, als die Militärjunta an die Macht gekommen war, verlassen, um nach London zu gehen. Nach Brüssel zogen sie während des Falklandkriegs, weil es zu der Zeit wenig ratsam war, als Argentinier in England zu leben.
Noch immer tief getroffen vom Tod ihrer Mutter, vertraute Martha Lyl Tiempo an, wie sehr sie sich in ihrem Kummer gefangen fühlte. Trotzdem war es ihr in der warmen, familiären Atmosphäre bei den Tiempos, in diesem fröhlichen Künstlerhaushalt mit den über alle Stockwerke verteilten Flügeln, den großen Zimmern mit den hohen Decken, dem kleinen sonnenbeschienenen Garten und dem ständigen Gelächter und Geschnatter, so, als würde sie ein verlorenes Paradies wiederfinden. »Das ist genau das richtige Haus für Pianisten!«, rief sie beim Osterfrühstück begeistert aus. Lyl reagierte sofort: »Warum kaufst du nicht das Haus nebenan?«
Bei diesem Haus handelte es sich um die exakte Kopie des Tiempo’schen Anwesens: ein großes Zimmer im Erdgeschoss, das auf den Garten hinausging, ein kleiner Keller, Wohnzimmer, Esszimmer und Küche im ersten Stock, mehrere Schlafzimmer im zweiten Stock, eine Dachkammer und zwei Badezimmer im dritten Stock. Die Besitzer waren zwei musikbegeisterte Homosexuelle. Am nächsten Morgen, kurz bevor es zum Flughafen ging, besichtigte Martha das Haus, das ihr auf Anhieb gefiel. »Ich würde es gerne kaufen«, erklärte die Pianistin dem Pärchen. Ihren Widerwillen gegen jegliche Form von Besitzstand hatte sie in dem Moment komplett vergessen.
Der Umzug nach Brüssel verlief dank Diane, Marthas Freundin, die sich als Hilfe angeboten hatte, verhältnismäßig reibungslos. Stéphanie wurde an einer europäischen Schule angemeldet. Annie ging nach ein paar Monaten, die sie noch in
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