Martha Argerich
war.
Eines Tages klagte Martha bei ihrer Nachbarin Lyl Tiempo über Schmerzen im linken Oberschenkel. »Ich habe in letzter Zeit wohl einfach zu viel gearbeitet!« Am nächsten Morgen kam sie wieder auf eine Tasse Kaffee zu Lyl und zeigte auf deren Drängen schließlich ihr nacktes Bein. Auf ihrem Oberschenkel befand sich ein ungewöhnlich großes Muttermal, das eine Verdickung der Hautoberfläche bewirkt hatte. Es war höchste Zeit, zum Arzt zu gehen. Im Brüsseler Erasmus-Hospital wurde
das Gefahrensignal sogleich erkannt. »In zwei Wochen bekommen Sie den Befund.« Als Diane starb, hatte Martha ihr Muttermal schon fast wieder vergessen. Kaum vom Friedhof zurück, erhielt sie einen Anruf von ihrer Hautärztin, die ihr mitteilte, es handele sich um ein malignes Melanom. Zwei Tage später, ausgestattet mit allen möglichen Laborergebnissen, fuhr sie nach Zürich, um sich in die Behandlung eines ausgewiesenen Hautkrebsspezialisten zu begeben. Doch ein Streit mit Rabinovitch führte dazu, dass sie ihren Termin verpasste. Am nächsten Tag kehrte sie in Begleitung ihres Freundes Abdoul (Jurg Grand) – der neun Jahre später das Progetto Martha Argerich ins Leben rief – ins Krankenhaus zurück. Der Chirurg war der Ansicht, es gelte, keine Zeit mehr zu verlieren, und führte einen verhältnismäßig großen Schnitt durch. Nach der Operation konnte Martha den Blick nicht von ihrem Oberschenkel lösen. Der Gedanke an ihren verstümmelten Körper stürzte sie in eine tiefe Depression. Als Jugendliche war sie besessen von der Angst gewesen, an Krebs zu erkranken – und nun musste sie damit leben! Sie begann sich vor ihrem eigenen Körper zu fürchten. Der Feind kam nicht mehr von außen, in Form von Mikroben oder einem Virus, sondern steckte in ihr selbst! Sie wollte nicht mehr alleine schlafen und wachte alle zwei Stunden tränenüberströmt auf. Erst als sie anfing, Medizinbücher zu lesen, Fachliteratur, Erfahrungsberichte von anderen Krebskranken, lernte sie allmählich, ihre
Situation zu akzeptieren.
Drei Jahre später, 1995, kehrte das Melanom an derselben Stelle zurück. Nachdem Martha sämtliche Auftritte abgesagt hatte, zog sie in die Wohnung ihrer Mutter in der Nähe der Place des Ternes in Paris. Martín Tiempo, der die letzte Station seiner diplomatischen Karriere in Paris absolvierte, wohnte ganz in der Nähe. Lyl, seine Frau, hatte sich angeboten, Martha ins Saint-Louis-Krankenhaus zu begleiten, in dem ein Chirurg arbeitete, der Martha wärmstens von einem einflussreichen Bekannten aus Israel empfohlen worden war. Die Untersuchungen fanden an verschiedenen Orten statt: die Biopsie in der Salpêtrière, die Röntgenaufnahmen in diversen privaten Laboren … Und, als wäre all dies noch nicht genug, wurde Paris zu der Zeit auch noch von zahlreichen Streiks gegen Juppés geplante (und letztlich gescheiterte) Sozialversicherungsreform lahmgelegt. Die Untersuchungen ergaben, dass sich vier Tumore gebildet hatten, von denen aber offenbar nur einer bösartig war. Wieder sollte operiert und vorsichtshalber alles entfernt werden. Ein paar Tage vor der Operation traf Martha den Chirurgen des Saint-Louis-Krankenhauses. Sie stellte ihm tausend Fragen, doch der Arzt wandte sich immer nur an Lyl Tiempo, die sie begleitete. Als sie das Sprechzimmer verließen, war die Pianistin tod-
unglücklich. »Du glaubst doch nicht, dass ich mich von jemandem aufschneiden lasse, der mir noch nicht mal in die Augen sieht?« Die Operation, die früh am Morgen stattfand, war dennoch ein Erfolg. Der Chirurg kam persönlich mit der glücklichen Nachricht zu seiner Patientin, die er endlich direkt ansprach. Sie musste lernen, sich selbst ihre Interferonspritzen zu setzen, und vor allem sollte sie künftig einen gleichmäßigeren Rhythmus leben, Stress vermeiden und nicht mehr so tun, als wäre sie erst zwanzig Jahre alt.
Ein Jahr später, 1996, begab sich Martha mit Charles Dutoit auf Japantournee. Nachdem sie mehrere Tage hintereinander mit Chopins Klavierkonzert Nr. 1 aufgetreten war, zeigte sie Anzeichen großer Erschöpfung. Zurück in Brüssel, musste sie feststellen, dass sie ein Problem mit der Lunge hatte. In Paris schließlich ordnete Professor Khayat eine Pleurapunktion an, um herauszufinden, ob die Ursache ihrer Beschwerden nach wie vor das Melanom war, oder ob es sich um einen anderen Krebsherd oder etwas Drittes handelte. Es war, wie sich herausstellte, immer noch das Melanom, das metastasiert hatte und nun an anderer Stelle
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