Martha Argerich
außergewöhnlich guter physischer Zustand stand im krassen Widerspruch zur völligen Erschöpfung der beiden Mediziner. Es war vorgesehen, dass die Pianistin sich noch vier Tage im Krankenhaus erholen sollte. Am dritten Tag öffnete sich die Tür ihres Zimmers und ein riesiger Strauß roter Rosen kam zum Vorschein, dahinter Daniel Barenboim und Zubin Mehta. Später kamen noch die Pianistin Alicia de Larrocha, der Architekt Rafael Viñol … Alexandre Rabinovitch kam ebenfalls, erschöpft und in schlechter Verfassung. Die Trennung der beiden Künstler stand unmittelbar bevor.
Martha hatte aufgehört zu rauchen. Sie verbrachte viel Zeit mit langen Spaziergängen am Strand von Santa Monica. Akiko presste ihr Säfte aus Roter Bete, Äpfeln und Johannisbeeren. Sie hatte irgendwo gelesen, dass Antioxidantien gut gegen Krebs seien. David Davtyan und seine Frau freundeten sich mit Martha an. Im Gegensatz zu Morton war Davtyan ein großer Musikliebhaber. In seiner schönen Villa in Beverly Hills hörten sie zusammen Musik, und die Pianistin erzählte dem Ehepaar heitere Anekdoten aus der Musikwelt.
Für die Zeit ihrer Rekonvaleszenz zog Martha zu Vitaly Margulis nach Bel Air in den Hügeln von Los Angeles, nicht weit vom Mulholland Drive. Sie hatte den Pianisten 1967 im Rahmen einer Tournee kennengelernt. Aus der Stankt Petersburger Klavierschule hervorgegangen, hatte er seine Heimat verlassen, um eine Stelle als Klavierprofessor in Deutschland anzutreten. Martha schickte ihm zahlreiche Schüler, die sich aus dem Kreis der ständig ihren Rat suchenden begabten Jungpianisten rekrutierten. Bei Vitaly (der seinen sprechenden Namen völlig zu Recht trägt!) lebte Martha zusehends auf. Sie lachte viel, trank russischen Tee, aß jede Menge Kuchen und schlief vor dem Fernseher ein. Die Filmproduzentin Julie Resh kam sie oft besuchen oder kutschierte sie in ihrem Auto umher. Die beiden Frauen hatten sich angefreundet und verbrachten viel Zeit miteinander. Mit einem besonderen Sinn fürs Praktische und einem selbstlosen Naturell ausgestattet, kümmerte sich Julie rührend um Martha, bezahlte ihre Rechnungen, aß mit ihr zu Mittag. Manchmal regte sich Martha über die Ratschläge ihres Schutzengels auf und spottete über Julies rationales Wesen. »Ich will aber nicht vernünftig sein!«, protestierte sie dann. Julie, die sie zu sämtlichen Untersuchungen begleitete, war sehr überrascht, als im Rahmen einer funktionellen Magnetresonanztomographie von Marthas Gehirn entdeckt wurde, dass die linke Großhirnhälfte der Pianistin stärker entwickelt war als die rechte, was nahelegte, dass ihr Sinn fürs Logische doch weitaus stärker ausgeprägt war, als sie stets behauptete. Als Julie eine Bemerkung in diese Richtung machte, erwiderte Martha sogleich: »Aber natürlich, ja!« Man glaubt immer, dass Musik eine rein kreative Angelegenheit sei und vor
allem auf Intuition beruhe, und vergisst dabei die eminente
Bedeutung der Mathematik und Logik in diesem Zusammenhang. Indem sie sich rebellisch und chaotisch gibt, versucht
Martha lediglich, dieser Tyrannei zu entfliehen und das Gleichgewicht wiederherzustellen.
Zwei Wochen nach ihrer Operation kam Martha auf die Idee, anlässlich des Geburtstags von Vitaly Margulis ein kleines Überraschungskonzert zu geben. Sie hatte heimlich mit seinem Sohn Jura Margulis Beethovens Symphonie Nr. 2 für Klavier vierhändig und ein paar Schubert-Märsche eingeübt. Doch am Abend des Geburtstags zog sie sich, verunsichert von den vielen Gästen und der Anwesenheit einer Kamera, auf ihr Zimmer zurück, um ein wenig auszuruhen. Prompt wurde sie vom Schlaf übermannt, und als sie wieder aufwachte, waren nur noch fünf oder sechs enge Freunde da, die sich um den bestens gelaunten Vitaly geschart hatten. Nach einem kurzen Blickwechsel mit Jura trat Martha ans Klavier, um dem Helden des Tages endlich ihr musikalisches Geburtstagsgeschenk zu überreichen.
Martha wäre gern länger bei dem Freund geblieben, doch die amerikanische Einwanderungsbehörde weigerte sich, ihr Visum zu verlängern. Martin Engstroem, der künstlerische Leiter der Deutschen Grammophon, kam sie besuchen, um ihr die Teilnahme am dritten Verbier Festival in der Schweiz anzubieten, das er 1994 ins Leben gerufen hatte. Geehrt von seiner Anfrage, begann Martha Schostakowitschs Trio Nr. 2 einzuüben. Alexandre Rabinovitch gab ihr jede Menge Ratschläge, die sie voller Respekt verinnerlichte. Im Juni kehrten die beiden Pianisten in die Schweiz
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