Martha Argerich
insofern ein besonders schwieriger, als die Krankheit bei ihr sehr rasch voranschritt. Bei ihrem Rückfall hatte sich die Aktivität der Krebszellen drastisch erhöht. In den Neunzigerjahren scheute man bei Metastasen in der Lunge noch vor Eingriffen zurück. Die meisten Ärzte waren der Ansicht, der Patient würde neun Monate mit und sechs Monate ohne Behandlung überleben können. Anders als seine Kollegen wollte sich Donald Morton mit dieser Niederlage jedoch nicht abfinden. Er wurde vielfach kritisiert, weil er selbst in den aussichtslosesten Fällen operierte. Sein Credo lautete: »Der Operationssaal ist das Labor eines jeden Mediziners.« Was so viel heißt wie: »Wenn wir diesen Patienten schon nicht retten können, dann vielleicht wenigstens den nächsten.«
Donald Morton hatte erkannt, dass sein Impfstoff allein nicht ausreichen würde, den Krebs bis ins Letzte zu bekämpfen. Zu der Zeit, als Martha nach Los Angeles kam, war er dazu übergegangen, den Prototyp seines Impfstoffs mit einem massiven chirurgischen Eingriff zu kombinieren. In der Folge sollte sich zeigen, dass seine Intuition ihn nicht getrogen hatte. In einigen Fällen konnte der eigentliche Krebsherd durch die operative Entfernung der Metastasen in der Lunge ausgemerzt werden, während der Impfstoff die im Ultraschall nicht erkennbaren, im ganzen Körper verteilten Krebszellen behandelte.
Am Vorabend der Operation vertraute Martha den beiden Ärzten ihre Ängste an. Um in den Brustkorb eindringen zu können, plante Morton, ein elektronisches Skalpell zu verwenden, wobei – gewissermaßen als Kollateralschaden – auch bestimmte Muskeln durchtrennt würden. Die anatomischen Skizzen ihres alten Lehrers Scaramuzza vor Augen, machte Martha den Medizinern deutlich, dass ein Pianist seinen ganzen Körper braucht, um seinen Beruf ausüben zu können. Donald Morton und David Davtyan baten sie, die Interpretation eines Stückes auf einer Tischplatte zu simulieren, damit sie sie »in Aktion« untersuchen könnten. Sie erkannten, wie eminent wichtig der latissimus dorsi beim Klavierspiel ist, jener Muskel, der bekanntermaßen die dreieckige Form des Oberkörpers von Schwimmern bewirkt. Morton überlegte eine Weile. Schließlich verkündete er seiner berühmten Patientin, dass er in ihrem Fall auf das elektronische Skalpell verzichten wolle, damit sie nach dem Eingriff schneller wieder arbeitsfähig sein würde. Martha war sehr stolz darauf, dass er extra ihretwegen seinen modus operandi umstellte. Und in der Tat sollte dieses eher handwerkliche Vorgehen – es war vorgesehen, dass die beiden Ärzte »vierhändig« operieren würden – letztlich dazu führen, dass das vom Krebs befallene Gewebe besser identifiziert werden konnte.
Als sie bereits auf der Station lag, dachte Martha noch einmal über Mortons Vorschlag nach. Sie war sich immer noch nicht sicher, ob sie das Risiko eines so massiven Eingriffs wirklich auf sich nehmen sollte. »Wenn es sich um meine Frau handeln würde, riete ich ihr von der Operation wohl eher ab. Aber bei meiner Mutter würde ich den Eingriff sofort vornehmen.« Was wollte er ihr damit sagen? Bei ihrer Ankunft in Santa Monica hatte er sie gefragt: »Was ist wichtiger für Sie? Ihre Gesundheit oder Ihre Karriere?« Die Gesundheit, auf jeden Fall! Aber hatte sie die nicht jahrelang vernachlässigt, ohne auch nur einen einzigen Gedanken darauf zu verschwenden? Donald Morton war ein kräftiger blonder Hüne mit einem offenen Lächeln. Er drückte sich klar aus, strahlte eine große Heiterkeit aus und wirkte sehr vertrauenerweckend auf Martha.
Ihre Töchter Annie und Stéphanie, die damals beide in New York lebten, waren sofort angereist gekommen. Ebenso der argentinische Pianist Efraín Paesky, der in Washington lebte, Sergio Ciani, der Bruder des großen italienischen Pianisten Dino Ciani, Lyl Tiempo, Jacques Thélen, ihr neuer Agent, der dem im Vorjahr verstorbenen Reinhard Paulsen nachgefolgt war, der Musikkritiker Alain Lompech … Die Atmosphäre im Hotel war herzlich, lustig, von Zärtlichkeit erfüllt. Eduardo Delgado war derjenige, der Martha schließlich am 3. März 1997 um sechs Uhr morgens ins Krankenhaus begleitete. Bevor sie das Gebäude betrat, rief sie leichthin: »Wissen Sie, worüber Gott besonders herzlich lacht? Wenn man ihm erzählt, man hätte noch ein paar Dinge vor im Leben.«
Nach der dreieinhalbstündigen Operation wachte Martha strahlend, wunderschön und voller Energie aus der Narkose auf. Ihr
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