Martha im Gepaeck
Selbstbeurteilungen machen, und da sie sich nicht um ihr Futter kümmern mussten, hatten sie auch keine existentiellen Sorgen. Herrlich. Sie ging zum nächsten Glaskasten.
Hier drinnen war es unheimlich, still und düster. Karens anfängliches Behagen, dem Sonnenlicht und der Hitze zu entfliehen, machte mittlerweile einem ungemütlichen Gefühl Platz. Diese seltsamen Kreaturen, denen sie hier praktisch ins Wohnzimmer schauten … Gleich am Eingang war sie in etwas Weiches getreten, das sie seitdem wie ein ausscherendes Pferd irgendwo abzustreifen versuchte.
Schweigend schoben sich die Thiemes durch das unfreundliche Gemäuer, den Magen voller dreieckiger Sandwiches mit Eiern und Kressefüllung – das einzig Essbare, das der Kiosk im Fledermausreservat um diese Zeit noch zu bieten hatte. Sie waren fast die einzigen Gäste, und jetzt, nachdem sie bereits zwei Stunden lang künstliche Grotten und Höhlen voller dichter Fledermaustrauben bewundert hatten, fragte sich Karen, warum sie, dreiundvierzig Jahre alt, trotz der verhunzten Haarfarbe noch relativ gutaussehend und außerdem wirklich erholungsbedürftig, eigentlich ihre wertvollste Zeit des Jahres damit verbrachte, sich von einer über achtzigjährigen Dame erpressen zu lassen und schlurfend an hässlichen Nachttieren vorbeizuziehen, die teilnahmslos zurückstarrten.
»Wenn die Scheibe plötzlich kaputtginge, das wäre toll, was.« Mark klopfte an das Glas. »Dann würden die alle rauskommen und sich in euren Haaren verfangen.« Er klopfte stärker. »Wacht auf, ihr Penner. Zeigt euch!«
»Mann, du ärgerst sie.« Teresa stellte sich schützend vor das Glas.
»Die sind voll öde. Der ganze Zoo ist voll öde. Warum sind wir nicht irgendwo anders hingefahren? Shoppen oder wenigstens irgendwohin, wo was los ist.«
»Aber Teresa wollte so gern die niedlichen Tierchen sehen. Und es ist in der Nähe der Werkstatt.« Bernd beugte sich vor und lächelte blindlings in die gespenstisch beleuchtete Behausung der Fledermäuse hinein.
Karen hatte genug gesehen. Absolut ekelhaft, die Viecher. »Einkaufen würde ich auch gern«, pflichtete sie Mark bei. »Dann könnte ich gleich mal nach den Stiefeln gucken.«
Sie traten wieder ins Licht hinaus.
»Deine Sandalen sind doch noch sehr hübsch«, bemerkte Bernd.
Karen wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Heute Morgen wäre er noch nicht mal in der Lage gewesen zu sagen, ob sie Skistiefel, Badelatschen oder Fußballschuhe anhatte. Bernd erfüllte Tante Marthas Hausaufgaben brav wie ein Erstklässler.
»Du hast gesagt, dass ich mir Stiefel kaufen kann.«
»Natürlich. Auf jeden Fall. Stiefel sind auch hübsch. Sehr hübsch. Besonders an dir«, stotterte Bernd.
»Danke.« Karen unterdrückte ein Grinsen. Dann sah sie auf ihre Uhr. »Es ist sowieso gleich sechs. Wir können den Wagen holen. Dann besorgen wir noch was zu essen und gehen zeitig ins Bett. Morgen will Papa nach Schottland durchfahren.«
Der Van war fertig. Er hatte zwar immer noch eine Delle und einen unschönen Kratzer an der Seite, aber das war nur kosmetisch. Jetzt stand der malerischen Fahrt in die Highlands nichts mehr im Wege. Aber zuerst zurück ins Motel, Tante Martha von ihrem Nickerchen aufwecken, was essen, schlafen. Karen saß am Steuer. Bernd hatte keinerlei Einspruch erhoben. Sie setzte die Klimaanlage in Gang und legte eine von Bernds Entspannungs- CD s ein. Von Panflöten und Vogelschreien begleitet, fuhren sie durch die hügelige englische Landschaft, die ihr jetzt sehr viel friedlicher und schöner vorkam als noch heute Morgen. Gelegentlich blitzte ein weißes Cottage hinter den Bäumen auf, und einmal fuhren sie an einer altmodischen roten Telefonzelle vorbei, die mitten in der Landschaft stand. Eigentlich war jetzt alles so, wie es sein sollte: zufriedene, müde Kinder auf der Rückbank; ein Mann, der friedlich und schweigsam auf dem Beifahrersitz saß und sich rührend, wenn auch ein bisschen hilflos am Komplimentemachen versuchte; und ein paar gerade besorgte Pakete Fish & Chips, die unwiderstehlich dufteten, auch wenn sie viertausend Kalorien pro Portion hatten. Aber egal, schließlich musste sie vor Bernd nicht so tun, als ob sie auf ihr Gewicht achte und sich irgendwelchen Esszwängen unterwerfe, wie das vielleicht bei Mike der Fall gewesen wäre. Und wenn sie sich anstrengte, musste sie nicht mal das vorwurfsvolle, zerschundene Gesicht der Meerjungfrau im Rückspiegel sehen, die wie eine Aussätzige in die allerletzte
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