Martha im Gepaeck
altmodischen Herd und weiße Kacheln mit blauen Mustern an der Wand. Karen fand das beruhigend. Es schirmte die Außenwelt ab, fast, als wäre hier die Zeit stehen geblieben. Mrs Warnock zog ein paar Schubladen auf und sah prüfend hinein.
»Lebt Ihre Mutter denn noch?«, fragte Karen vorsichtig. Vielleicht war sie ja eine der Toten, von denen Mrs Warnock froh war, sie nicht mehr hören zu müssen.
»Jawohl. Und ich sag’s Ihnen – sie ist dreiundneunzig, aber noch glasklar hier oben.« Sie tippte sich kurz an den Kopf. »Sie liegt zwar fast nur noch im Bett, aber mich rumscheuchen, das kann sie hervorragend. Ihre Mutter ist ja auch noch ganz schön auf Zack.«
»Martha ist meine Großtante«, sagte Karen. Noch vor kurzem hätte sie das mit entschuldigender Stimme gesagt, jetzt spürte sie fast so etwas wie Stolz. Wer konnte schließlich schon so eine grandiose alte Dame als Verwandte vorweisen? Dann fiel ihr etwas ein. »Sagen Sie mal, Mrs Warnock, gibt es hier irgendwo ein Grab?«
Zu Karens Überraschung lachte Mrs Warnock laut auf. »Na, Sie sind gut. Hier gibt es einen ganzen Friedhof. Am anderen Ende des Gartens, hinter dem See. Dort ist auch eine verfallene Kapelle. Da liegen sie alle, die MacGregors, schon seit dem armen William.«
»Dem armen William?«
»Der mit der Kopfverletzung.« Sie senkte die Stimme. »Der Geist. Sie wissen schon.« Sie nickte mit dem Kopf in Richtung Mark, dabei hörte der gar nicht zu. Musik hämmerte in seinen kleinen Kopfhörern. »Lindsey ist ja überzeugt davon, dass er ihr mal erschienen ist. Sie behauptet, dass er sie auserwählt und mit ihr gesprochen hat, weil sie übersinnliche Fähigkeiten hat. Ich glaube, dass sie zu wenig gegessen und nur geträumt hat. Und außerdem will ich so etwas mit eigenen Augen sehen. Aber wenn Sie wollen, zeigt Ihnen Lindsey gern sein Grab. Vielleicht ist ja wirklich was dran«, fügte sie schnell hinzu. Offenbar war ihr der Gedanke gekommen, dass Karen unter Umständen ja ganz verrückt danach sein konnte, diesen Geist zu erleben.
»Danke, das finde ich schon selbst«, sagte Karen. »Hinter dem See, ja?« Ein ganzer Friedhof? Das war schon ein bisschen gruslig. Sie würde Mark mitnehmen.
»Raus!«, schrie Mrs Warnock plötzlich.
Karen zuckte zusammen. Was hatte sie denn getan? Aber Mrs Warnock sah an ihr vorbei. Karen drehte sich um und machte einen Satz zurück. Vor ihr stand ein kalbsgroßer schwarzer Hund.
»Das ist Angus«, erklärte Mrs Warnock. »Böser Junge!«, schrie sie wieder. »Du sollst doch nicht in die Küche.«
Der Hund öffnete sein Maul und entblößte gewaltige Zähne. Eine kleine Hand erschien auf seinem Rücken und streichelte ihn. Karen blieb beinahe das Herz stehen.
»Teresa«, stammelte sie. »Geh weg von dem bösen Hund.«
Teresa streichelte weiter. Sie stand jetzt direkt neben dem Tier, das ihr bis ans Kinn reichte. »Er ist total lieb und niedlich, Mama. Er ist mein Freund. Er gehört John. Der hat gesagt, ich darf mit ihm spielen.«
»Geh. Da. Weg.« Karen sprang nach vorne und riss Teresa mit sich. Die fing an zu brüllen. »Du bist gemein! Er ist mein Freund! Alle haben einen Freund, nur ich nicht. Mark hat Lindsey, du hast Papa, und Martha hat jetzt John, und die Meerjungfrau darf ich auch nicht mehr anfassen. Angus ist mein Freund.« Sie strampelte sich frei. »Lass mich los!«
Karen biss sich auf die Lippe. Teresa hatte recht. In all der Aufregung war das arme Kind total untergegangen.
»Lassen Sie nur«, bemerkte Mrs Warnock, die Teresa zwar nicht verstanden hatte, aber wohl trotzdem begriff, worum es ging. »Der Angus ist ein ganz Lieber. Trottelig und gutmütig. Hat eine gute Menschenkenntnis. Nur in die Küche darf er nicht. Aber wenn er halt schon mal hier ist …« Sie öffnete den Kühlschrank und holte eine Scheibe Wurst heraus.
»Möchtest du sie ihm geben?«, fragte sie Teresa.
Und bevor Karen etwas dagegen tun konnte, verschwand die zarte kleine Hand ihrer Tochter in dem großen Hundemaul.
»Es schmeckt ihm«, rief Teresa begeistert.
Der Hund legte sich hin und rollte auf den Rücken. Gegen ihren Willen musste Karen lachen. Es sah aus, als ob sich ein kleines Mammut auf dem Küchenboden wälzte.
»Was ist das denn?«, fragte Mark. Offenbar hatte er erst jetzt die Anwesenheit des Hundes bemerkt.
»Das ist Angus«, hörte Karen sich zu ihrer eigenen Überraschung sagen.
»Mein Freund«, rief Teresa.
Die Meerjungfrau hatte einen Ehrenplatz in der Ahnengalerie bekommen. Wie ein
Weitere Kostenlose Bücher