Martha im Gepaeck
summend die Treppe hoch. Abwehrend hielt sie ihm ihre Hand entgegen, als Zeichen, dass er nicht so laut sein sollte.
»Ich zeige dir morgen sein Grab.« Das war wieder John. »Und ich danke dir für alles. Am dankbarsten bin ich dafür, dass ich das noch erleben kann. Ich hatte die ganze Zeit Angst, dass ich als Erster gehen muss.«
»Du bist doch zäh. Ein echter Highlander.« Etwas raschelte. Was machte Martha? »Und Unkraut vergeht nicht.«
Johns Antwort war so leise, dass Karen sie nicht verstehen konnte, und außerdem ging in diesem Moment das Licht an. Bernd hatte es angemacht. »Warum stehst du denn hier im Dunkeln herum?«, fragte er laut.
Eine Tür fiel zu. Karen drehte sich zu Bernd um und verdrehte die Augen. »Sie haben gerade was beredet«, flüsterte sie. »Bevor du dazwischengepoltert bist.«
»Was denn?«, flüsterte Bernd zurück, obwohl keiner mehr da war, der ihn hätte hören können.
Karen schwieg. Ja, was? Was hatten die beiden da gerade besprochen? Und von wessen Grab hatten sie geredet?
»Keine Ahnung«, sagte sie zögerlich.
25 Mrs Warnock war eine rundliche Frau Anfang sechzig mit einem sommersprossigen, freundlichen Gesicht. Sie stellte zufrieden einen weiteren Teller gebutterter Toastscheiben vor Mark auf den Frühstückstisch. »Der Junge hat ordentlich Appetit. So muss das sein«, sagte sie zu Karen. »Unsere Lindsey lebt ja nur von Luft und Cola, fürchterlich. Nur Haut und Knochen, die jungen Dinger heutzutage. Was soll daran bloß schön sein?«
Karen nickte. Das fragte sie sich auch jedes Mal, wenn selbst ein T-Shirt in Größe L im Laden so klein war, dass sie es bestenfalls als Stirnband verwenden konnte. Allerdings fand sie, dass Lindsey trotzdem sehr nett aussah. Und da war sie nicht die Einzige, wenn sie Mark so beobachtete. Leider verwandelte er sich in Lindseys Abwesenheit wieder in den stummen Morgenmuffel, den Karen gewohnt war. Er öffnete den Mund nur, um weitere Gabeln voller Rührei und Schinken hineinzuschaufeln. Der Geist mit dem Kopfverband hatte sich offenbar gestern nicht mehr blicken lassen, jedenfalls gab es keinerlei spektakuläre Videos als Beweis. Insgeheim hoffte Karen, dass Lindsey bald wiederkommen und Mark erneut ungewohnte Äußerungen wie »bitte« oder »gern geschehen« entlocken würde. Aber da musste sie wohl bis zum Nachmittag warten. Lindsey half in der Destillerie aus, gemeinsam mit Bernd, der sich das alles noch mal ganz genau ansehen wollte. Jetzt, wo er ja praktisch Gast des Hauses war. Vielleicht ließ John ihn sogar irgendeinen Whisky-Handgriff erledigen? Etwas umrühren oder abfüllen oder gar kosten? Karen hoffte es. Es würde Bernd unendlich glücklich machen, und sie fand, dass er nach all den Turbulenzen ein Erfolgserlebnis verdient hatte. Martha war ebenfalls mitgegangen, um endlich mal wieder die Destillerie zu besuchen, jetzt, wo der Schock des Wiedersehens mit John überwunden war. Karen wünschte, Martha wäre hiergeblieben. Es gab noch so viele unbeantwortete Fragen.
»Wie lange arbeiten Sie denn schon hier?«, erkundigte sie sich bei Mrs Warnock.
Die trocknete sich die Hände an einem Küchenhandtuch ab. »Ach, du lieber Himmel. Schon ewig. Seit dreißig Jahren bestimmt schon.«
Seit dreißig Jahren. Also erst nach Marthas Zeit. Karen verspürte eine leichte Enttäuschung. Sie hatte gehofft, in der redewilligen Mrs Warnock eine interessante Informationsquelle gefunden zu haben.
Die merkte nichts davon. »Vorher hat meine Mutter hier den Haushalt gemacht. Und davor schon ihre Mutter. Eine Familientradition sozusagen. Aber meine Tochter Susan, Lindseys Mutter, hat damit gebrochen. Sie arbeitet bei einem Makler in Aviemore. Und Lindsey hat auch nicht vor, anderen Leuten den Haushalt zu führen. Sie will Parapsychologie studieren.« Mrs Warnock schüttelte verständnislos den Kopf. »Hat man so was schon gehört? Ich wette, das gibt es gar nicht. Wozu soll das gut sein? Ich will nicht wissen, was morgen geschehen wird, und bei den meisten Toten bin ich auch froh, dass sie endlich ihren Mund halten.« Sie wischte mit einem Lappen über den großen Holztisch, an dem Mark wie ein einsamer Ritter der Tafelrunde saß und mit verschlafenem Blick auf seinen Teller stierte. Die Küche war, wie alles in Johns Haus, unheimlich geräumig und hoch. Allerdings fehlte der Anblick moderner Mixer, Entsafter, Espressomaschinen und all jener Geräte, die sich in den Küchen von Karens Bekannten tummelten. Hier gab es einen Teekessel, einen
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