Martha im Gepaeck
beobachtet? So viel zur tollen Menschenkenntnis des Hundes.
»Cullen?« Mrs Warnock schnäuzte sich. »Das war der große Bruder von John. Ja, der ist vor drei Monaten gestorben.« Sie sah sich kurz um und senkte ihre Stimme. »Dass der überhaupt so lange gelebt hat, war ja ein Wunder. Aber wenn das Herz noch mitmacht, dann können die Leber und der Verstand noch so ramponiert sein. Wenn Sie mich fragen, ist das nicht gerecht. Andere müssen so zeitig gehen und …« Sie räusperte sich. Offenbar war ihr bewusst geworden, mit wem sie hier redete. »Na ja, den Toten soll man nichts Schlechtes nachsagen.«
»Wie?«, fragte Karen. Hatte sie das jetzt richtig verstanden? »Sie meinen, Cullen war ein Trinker?« Was war gleich noch mal das Wort für Alkoholiker?
»Allerdings.« Mrs Warnock stellte einen Drahtkorb mit Äpfeln auf den Tisch, nahm einen heraus und fing an, ihn zu schneiden. Es sollte Apfelkuchen geben. »So schnell konnte die Destillerie den Whisky gar nicht herstellen, wie der ihn weggekippt hat. Aber hat es ihm was ausgemacht? Nicht die Bohne.« Sie griff sich den nächsten Apfel. »Na, jedenfalls haben alle geglaubt, dass er John noch überleben wird. Aber es gibt wohl doch noch eine ausgleichende Gerechtigkeit, nicht?« Sie wurde rot. »Also, verstehen Sie das nicht falsch, man wünscht es ja keinem, aber …«
»Verstehe schon«, sagte Karen schnell. Sie sah aus dem Fenster in den Garten hinaus, wo Teresa mit Angus und Mark herumrannte. Der Hund zertrampelte bei jedem Schritt ein Pfund Blumen. Was hatte Martha mit diesem Cullen zu schaffen gehabt? So wie sie sich nach ihm erkundigt hatte, klang es beinahe, als ob sie froh war, dass er unter der Erde lag. Karen griff ebenfalls nach einem Messer und einem Apfel. »Wissen Sie denn, ob sich Martha und Cullen gemocht haben?«
Mrs Warnock schüttelte bedauernd den Kopf. »Keine Ahnung. Das war ja noch vor meiner Zeit. Aber romantisch ist das schon mit John und Martha, finden Sie nicht?« Sie lächelte versonnen. »John hatte ja eine Weile lang ein Foto von ihr in seinem Zimmer stehen, nur wusste ich nicht, wer das war. Dachte, das wär so ein Pin-up-Girl. Wegen diesem Outfit. Mit Federn und so.«
Grundgütiger. Karen rutschte mit dem Messer ab und schnitt sich in den Daumen. Hastig steckte sie ihn in den Mund. Federn?
»Meine Mutter hat früher auch mal was von einem ›German girl‹ erzählt, aber ich hab ja keine Ahnung gehabt, vom wem sie redet. Ich war noch ein Kind, als Martha hier war. So eine verschwommene Erinnerung habe ich allerdings, an eine wunderschöne Dame, die im Garten getanzt hat und auf einem Seil laufen konnte, das sie quer über den Rasen gespannt hatte. Das hat mich damals schwer beeindruckt.«
Im Treppenhaus erklang Lärm. Offenbar rannten die Kinder jetzt mit dem Hund durchs Haus. Karen stellte sich einen irrationalen Moment lang vor, wie sich ein Hund wie Angus in ihrer Wohnung zu Hause machen würde. Unmöglich. Er würde den halben Flur einnehmen, dauernd irgendwo anecken, mit einem Schwanzwedeln den Schuhschrank umschmeißen und der Wachowiak einen Nervenzusammenbruch bescheren. Sollten die Kinder sich hier so lange an ihm erfreuen, wie sie es noch konnten. In weniger als zehn Tagen war der Urlaub schon wieder zu Ende. Sie mochte überhaupt nicht daran denken. Besonders nicht, nachdem sie das alles hier gesehen hatte. Der Gedanke an den nahenden Herbst, an Regen, an Busse voller hustender, schlechtgelaunter Menschen, an die Visa-Rechnungen vom Urlaub und an Dr. Albrechts Motivationsmeetings deprimierte sie zutiefst. Aber vielleicht konnten sie im nächsten Sommer wieder herkommen? Mit Martha im Gepäck.
Draußen fuhr ein Auto vor; Bernd, John und Martha kamen zum Mittagessen zurück. Karen ließ das Messer fallen und lief hinaus, um Bernd von dem Grab zu erzählen. Unter Umständen hatte er ja eine Idee, was Martha daran so interessierte.
Bernd hob gerade die Holzkugel wieder vom Boden auf, die normalerweise ans Ende des Treppengeländers gehörte, aber immer abfiel und durch die Halle rollte. »Eigentlich gibt es hier doch genug zu tun«, sagte er zu John. »Warum lädst du dir noch die Arbeit in der Destillerie auf?«
Mark kam mit vollem Karacho die Treppe heruntergerannt, dicht gefolgt von Angus und Teresa. Da erklang ein lautes Knirschen. Mark drehte sich um. Hinter ihm war auf einmal ein Loch in der Treppe. Teresa stand mit weit aufgerissenen Augen drei Stufen höher.
»Angus?«, fragte Mark. Er guckte nach
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