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Martha im Gepaeck

Martha im Gepaeck

Titel: Martha im Gepaeck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Herwig
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stummer Diener stand sie dort zwischen einer Holzbank und einer Wanduhr. Tagsüber mochte das ja noch gehen, fand Karen, aber nachts würde sie dem Ding nicht im Dunkeln begegnen wollen. John MacGregor war ganz aus dem Häuschen gewesen, als er es gesehen hatte. Er glaubte nämlich, dass es sich dabei um eine kleine Galionsfigur handelte. Aus Frankreich oder aus dem Baltikum, jedenfalls nicht aus England. »Wegen der Freizügigkeit«, hatte er schmunzelnd erklärt und dabei die Hände kurz über seiner Brust gewölbt. Allerdings räumte er auch die Möglichkeit ein, dass es sich bei der Figur durchaus um eine Art ehemaliges Aushängeschild einer Seemannskneipe handeln konnte. Auf jeden Fall wollte er der Sache auf den Grund gehen. Er hatte sogar vorsichtig angedeutet, dass die Figur unter Umständen eine Menge Geld wert war. Es war kaum zu glauben, dass dieses Holzding, das Karen am liebsten auf der Autobahnraststätte ausgesetzt hätte, etwas sein sollte, wonach Antiquitätenhändler gierig ihre Hände ausstreckten. Aber wenn Karen sich so in Johns Haus umsah, dann hatte der Mann sicher Ahnung, wovon er sprach. Und auf jeden Fall machte ihn dieses Geschenk von Martha glücklich, das konnte ein Blinder sehen. John hatte das zerschrammte Holz sanft mit den Fingerspitzen berührt, als ob es die weiche Haut einer Frau wäre. Und dabei an Martha gedacht?
    »Meinst du, John wird die Meerjungfrau verkaufen, wenn sich rausstellt, dass sie wirklich irre wertvoll ist?«, fragte Mark jetzt, als sie an der Figur vorbeiliefen.
    »Das glaube ich kaum«, erwiderte Karen. »Er hat sie doch von Martha gerade erst geschenkt bekommen. Das war so eine Art …« Sie suchte nach dem Wort.
    »Liebesgabe?«, schlug Mark vor.
    Karen sah ihn überrascht an. »Na, jetzt aber. Ich wusste gar nicht, dass du so ein Wort kennst.«
    »Ich kenne viel mehr, als du denkst«, gab Mark zurück, und zum ersten Mal stimmte Karen ihm heimlich zu. Er war in der letzten Woche irgendwie anders geworden. Reifer. Was hatte Martha in Edinburgh gesagt? Sie sollten Mark nicht immer wie ein Baby behandeln.
    »Angus«, rief Teresa. Der schwarze Hund folgte ihnen wie ein Schatten den kleinen Weg entlang zum See hinunter. Ein schmaler Pfad führte an dessen Seite tatsächlich noch weiter zwischen den Bäumen entlang. Den hatten Karen und Bernd gestern Abend gar nicht bemerkt.
    »Hier ist es«, rief Mark von weiter vorn. »Lauter alte Gräber. Cool.« Er hob sein Handy hoch und knipste die verwitterten Grabsteine, die hier im Halbkreis standen, sich teils aneinanderlehnten und teils nach vorn kippten. »Kann man gar nicht mehr lesen, wer da liegt. Aber alle hießen sie MacGregor. Glaube ich.« Mark stapfte ein Stück weiter. Trockenes Laub knirschte unter seinen Füßen. »Die hier hinten sind neuer«, rief er. »Und der hier ist ganz neu. Da ist auch noch so ein Kranz. Der ist gerade erst abgekratzt.«
    »Gestorben, Mark.« Karen spürte eine gewisse neugierige Unruhe in sich. War das etwa das Grab, von dem die beiden gestern Abend geredet hatten? »Lass mich mal sehen«, sagte sie. Sie duckte sich unter einem tiefhängenden Zweig hindurch.
    »Das ist gruslig, Mama.« Teresa drückte Karens Hand. »Ich will gehen.«
    »Gleich. Such doch in der Zwischenzeit Angus ein Stöckchen.«
    Mark trat ein Stück zur Seite. »Da. Guck. Noch funkelnagelneu.«
    Allerdings. Karen beugte sich vor, um die schwarze Inschrift auf dem noch fast weißen Grabstein zu lesen. Cullen MacGregor 21.2.1929 – 13.4.2010 . Mögest Du endlich Ruhe finden.
    »Wer war das denn?«, fragte Mark. »Johns Dad?«
    Karen verdrehte die Augen. »Meine Güte. Lernt ihr überhaupt irgendwas in der Schule? Guck doch mal auf das Datum. Kann das Johns Vater sein?«
    »Nein«, gab Mark kleinlaut zu. »Sein Bruder? Oder Cousin?«
    Karen nickte. »Vor drei Monaten.« Sie war sich jetzt sicher, dass dies das Grab war, nach dem Martha sich erkundigt hatte. Johns Bruder? Warum interessierte sich Martha für ihn? Hatte sie mit dem etwa auch …? Aber beide Brüder? Das war doch wohl kaum möglich. Karen verdrängte diesen Gedanken sofort wieder. Marthas Liebesleben wurde ihr immer suspekter. Nicht zuletzt, weil es offenbar aufregender als Karens eigenes war.
    »Nein, Angus, pfui!« Teresas Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Noch bevor Karen es verhindern konnte, hob das zottelige Vieh sein Bein am Grabstein des unbekannten Cullen MacGregor. Karen sah sich erschrocken um. Hatte irgendjemand die Grabschändung

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