Martha im Gepaeck
auffällig zu, dass selbst Mark es mitbekam und genervt die Augen verdrehte.
»Ich erkenne Mark kaum wieder«, sagte Karen, als sie draußen vor der Tür standen. »Hat man unseren Sohn irgendwie vertauscht, als ich mal nicht hingeschaut habe?«
»Ich glaube, er mag das Mädchen«, erklärte Bernd.
»Was du nicht sagst. Da wäre ich nie draufgekommen.«
»Na, solange er ihr nicht das Dekameron vorliest.« Bernd blieb stehen und schnupperte an einer fremdartigen lila Blume. Die Abendluft roch süß und frisch und ein bisschen nach Lagerfeuer. Aus einem der Schornsteine kam Rauch. Offenbar hatte John MacGregor den Kamin in seinem Zimmer angemacht. Alte Leute hatten es ja gern warm. Obwohl weder er noch Martha dem Bild vom rheumakranken Senior entsprachen.
»Nun guck dir das an«, meinte Bernd. »Ist das nicht umwerfend?« Er hatte sich umgedreht und blickte voller Bewunderung auf das große Haus mit den vielen Türmchen, die im letzten untergehenden Sonnenlicht leuchteten, als ob sie in Flammen stünden. Unsichtbare Insekten surrten um Karen und Bernd herum. In wenigen Minuten würde es dunkel sein. Karen fröstelte. Sie trug nichts weiter als ein dünnes T-Shirt und einen Sommerrock.
»Willst du meinen Pullover?«, fragte Bernd. Sie nickte. Und dann zog sie Bernds warmen, weichen Pullover über, so wie ganz am Anfang ihrer Beziehung, als sie für ihr Leben gern in seinen Sachen herumgelaufen war. Weil sie so gut nach ihm rochen. Irgendwann hatte sie damit aufgehört. Wann war das geschehen? Karen krempelte die viel zu langen Ärmel hoch. Es war ein schleichender Prozess gewesen. Ab einem gewissen Punkt hatte sie sich nur noch darüber geärgert, dass er seine Sachen nicht in den Wäschekorb, sondern immer daneben warf. Entnervt hatte sie dann meist die Sachen selbst aufgehoben, in die Waschmaschine geschmissen und bei 40 Grad – Feinwäsche und sanfter Schleudergang – gewaschen, wieder rausgezerrt und in den Trockner geworfen. Warum hatte sie sich so darüber geärgert? Es war doch eigentlich völlig unwichtig.
»Toll hier«, sagte sie leise und schloss alles mit ein – das Haus, den Park, Bernds Pullover, Bernd selbst, ihr großzügiges Gästezimmer, Martha mit ihren kleinen Geheimnissen, den netten John mit seinem Whisky und die Zuneigung zwischen den beiden, die Länder und Jahrzehnte überdauert hatte. Ja, sie schloss sogar den Geist mit ein, der sich wahrscheinlich bald auf den Weg machen würde, wenn er es bis Mitternacht in die Ahnengalerie schaffen wollte.
Sie spazierten eine Runde um den See herum. Bernd schlug einen Besuch im Irrgarten vor, aber Karen wollte nicht, womöglich verliefen sie sich im Dunkeln darin und mussten Mark um Hilfe bitten, denn die beiden alten Leute wollte sie auf gar keinen Fall stören.
Zurück im Haus, waren Mark und Lindsey gerade dabei, ein paar Kerzen anzuzünden.
»Um Himmels willen«, sagte Bernd erschrocken. »Was macht ihr denn da? Wenn ihr einschlaft, geht das ganze Haus in Flammen auf.«
»Wir schlafen doch nicht ein«, gab Mark amüsiert zurück. Er wechselte einen Blick mit Lindsey. Eltern! Was in deren rückständigen Hirnen so vorgeht . »Also echt.«
»Trotzdem«, beharrte Bernd. »Habt ihr wenigstens einen Feuerlöscher?«
Lindsey verstand nicht, was er meinte, wahrscheinlich benutzte Bernd das falsche Wort.
Daher hob Bernd den rechten Arm hoch, streckte den linken geradeaus, tat so, als ob er einen Hebel zog, und zielte dann auf ein unsichtbares Feuer.
Lindsey wich erschrocken zurück. »Ein Gewehr?«, fragte sie vorsichtig.
Karen überließ es Bernd, den Feuerlöscher in Gebärdensprache zu erklären. Sie huschte die breite Treppe hoch und wollte sich gerade in ihr Zimmer begeben, als sie Stimmen hörte. Martha kam aus Johns Zimmer heraus. Ein leises Kichern erklang, und Karen verharrte mucksmäuschenstill auf der Treppenstufe. Wollten sich die beiden jetzt etwa küssen? Während Mark unten seine schlaksigen Teenagerarme um Lindsey wickelte? Und wo blieb bitte schön Karen selbst bei all dieser Innigkeit? Nicht mehr jung genug für den ersten und noch nicht alt genug für den zweiten Frühling? Wenigstens begann das Eis zwischen ihr und Bernd ein wenig zu schmelzen.
»Ich weiß doch, dass du deswegen gekommen bist«, hörte sie John sagen.
»Na ja. Ein Deal ist ein Deal, oder nicht?«, erwiderte Martha. »Aber ich will sein Grab mit eigenen Augen sehen. Sonst glaube ich das nicht.«
Karen hielt unwillkürlich die Luft an. Bernd kam
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