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Marx fuer Eilige

Marx fuer Eilige

Titel: Marx fuer Eilige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Misik
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ökonomische Last abgeschüttelt, werde ich eine ›Dialektik‹ schreiben«, gab er sich kurz nach Erscheinen des ersten Bandes des »Kapi tal « zuversichtlich 103 .
    Marx hatte sich nach der gescheiterten Revolution von 1848 von der öffentlichen Bühne weitgehend zurückgezogen. Die geschlagene Arbeiterbewegung war lange darnieder gelegen, ihrer Führer beraubt, die entweder im Gefängnis oder im Exil saßen, während der Kapitalismus in den Jahren des »großen Booms« seinen Siegeszug in ungekannte Höhen fortsetzte. Die Hoffnung auf ein neuerliches Anschwellen der revolutionären Woge hatte Marx schnell aufgegeben. Es war die wahre »Blütezeit des Kapitals«, wie es im Titel der Darstellung Eric J. Hobsbawms so treffend heißt 104 . Die »augenfälligste Dramatik der Epoche lag im ökonomischen und technischen Bereich: im Eisen, das sich in Millionen von Tonnen über den Erdball ergoß und als gewundenes Band von Eisenbahnschienen die Kontinente überspannte, in den Unterseekabeln, die den Atlantik durchquerten, im Bau des Suezkanals, in den Großstädten …« 105 Der Welthandel stieg exponentiell, die Eisenproduktion vervierfachte sich, der Erfindung des Telegraphen folgte die des Telefons (1876 waren in Europa immerhin schon 200 solche Fernsprecher in Betrieb), die Städte schwollen an. Manche verglichen |114| diese Zeit zwischen 1850 und 1870 mit der Epoche der großen Entdeckungen und Eroberungen eines Columbus, Vasco da Gama und Pizarro. 1872 war es schließlich möglich, über London, Brindisi, durch den Suezkanal nach Bombay, von dort via Kalkutta nach Yokohama und weiter nach San Francisco zu reisen, quer durch den Westen nach New York, mit dem Schiff nach Liverpool und von dort mit der Bahn nach London zurückzufahren – und das innerhalb von 80 Tagen. Ein unglaublicher Sachverhalt, der dem schnell populär gewordenen Roman von Jules Vernes seinen Namen gab.
    Auch die Arbeiterbewegung erwachte nach und nach wieder zu neuem Leben. Schon die Rezession des Jahres 1857 brachte wie ein Blitz ins Bewußtsein zurück, daß es mit dem schier atemberaubenden Aufstieg des Kapitalismus nicht unendlich und widerspruchsfrei weitergehen würde. Karl Marx entfloh seit Mitte der sechziger Jahre der selbstgewählten Isolation mehr und mehr. In Deutschland war die Sozialdemokratie zu einer Macht geworden, auf deren rivalisierende Fraktionen und Führer – Ferdinand Lassalle, August Bebel, Wilhelm Liebknecht – Marx und Engels beträchtliche Autorität ausübten, und mit der 1864 gegründeten
» Internationalen Arbeiter-Assoziation
« – heute bekannt als die
Erste Internationale
– bekam der Gelehrte aus dem British Museum ein Instrument in die Hand, mit dem er die Kämpfe seiner Zeit durchaus zu beeinflussen vermochte. Ein loser Bund unterschiedlichster Strömungen, widersprüchlicher Charaktere, braver Gewerkschafter wie wilder Umstürzler, galt die Internationale den herrschenden Mächten bald als Drahtzieher aller Wühlversuche dieser Tage – die Internationale war |115| etwa so gefürchtet wie heute al-Qaida, und Marx hatte die zweifelhafte Ehre, als der gefährlichste aller gefährlichen Staatsfeinde in Europa zu gelten. Für die Freunde der herrschenden Ordnung war »der rote Terroristendoktor«, wie er nun allgemein genannt wurde, so eine Art Osama bin Laden des 19. Jahrhunderts.
    In den Jahren 1869/70 überrollte eine Woge von Arbeiterunruhen und Streiks den Kontinent von Deutschland, Frankreich, Italien bis nach Österreich-Ungarn und Rußland. Der Höhepunkt der neuen rebellischen Welle war erreicht, als nach Frankreichs Niederlage im deutschfranzösischen Krieg 1871 in Paris die Plebejer den Aufstand probten, die Oberklassen und die Regierenden vertrieben und die »Commune« ausriefen. Marx war elektrisiert, schenkte seinen ökonomischen Studien immer weniger Aufmerksamkeit, sah in den Maßnahmen und in der Selbstverwaltung, die sich die Pariser Revolutionäre gaben, »die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeiter sich vollziehen konnte« 106 und warf sich voll und ganz in die Schlacht. Auch nach der Niederschlagung der Pariser Revolution nahm der wachsende Zwist in der Internationalen das Gros von Marx’ Arbeitszeit in Anspruch, ebenso wie später die Gehversuche einer vereinigten Arbeiterpartei in Deutschland – jenes sozialdemokratischen Nukleus, aus dem die heutige SPD entstand. Von chronischen Leiden geplagt, von familiären Krisen gequält,

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