Marx fuer Eilige
gehört« (MEW 23, S. 674). Diese »modifzieren den Umstände« wie Staat, Machtkämpfe, Tradition, Ignoranz, Borniertheit, Etikette, Erfindungen, Hysterien und Sozialgesetzgebung stehen tatsächlich exterritorial zum System der politischen Ökonomie – wenngleich zentral in der Geschichte der modernen kapitalistischen Gesellschaft. Marx mußte in seiner Analyse einen »reinen« Markt, die »reine« freie Konkurrenz voraussetzen – auch wenn er selbstverständlich wußte, wie Gramsci sagte, daß die Wirklichkeit »niemals
› rein ‹
ist« 93 .
Doch alle Simplifizierungen haben Marx nicht daran gehindert, klarer zu sehen als die meisten braven Empiristen seiner und unserer Zeit. In der zweiten Hälfte des »Kapi tal « zeichnet Marx kunstvoll nach, wie aus den Prozessen, die das Kapitalverhältnis in Gang setzt, aus den Verhältnissen von Verhältnissen, die es gebiert, eine gleichsam automatische Welt erwächst, eine große Welt-Maschine, die jeden und alle an sich anschließt und die vom Großen bis zum Kleinen die Subjekte zu Räderwerken der Kapitalverwertung macht. Die Warenproduktion zwingt, wo die Lohnarbeit allgemeine Basis ist, »sich der gesamten Gesellschaft auf« (MEW 23, S. 613). Der Kapitalist schafft einen »gesellschaftlichen Mechanismus, worin er nur ein Triebrad ist«, und »die Konkurrenz herrscht jedem individuellen Kapitalisten die immanenten Gesetze |106| der kapitalistischen Produktionsweise als äußere Zwangsgesetze auf« (MEW 23, S. 618). Wie der Proletarier ihr »nur als Maschine zur Produktion von Mehrwert, gilt ihr aber auch der Kapitalist nur als Maschine zur Verwandlung dieses Mehrwerts in Mehrkapital« (MEW 23, S. 621). Doch so, wie die kapitalistische Welt als Monster, als toter Mechanismus unabhängig von den Akteuren seine Prinzipien hinter deren Rücken vollzieht und sie sich als lebendige Anhängsel einverleibt, so wird in der kapitalistischen Fabrik der »Automat selbst das Subjekt, und die Arbeiter sind nur als bewußte Organe seinen bewußtlosen Organen beigeordnet« (MEW 23, S. 442). Aus den vereinzelten Maschinen in den frühneuzeitlichen Manufakturen wird »hier ein mechanisches Ungeheuer, dessen Leib ganze Fabrikgebäude füllt und dessen dämonische Kraft, erst versteckt durch die fast feierlich gemeßne Bewegung seiner Riesenglieder, im fieberhaft tollen Wirbeltanz seiner zahllosen eigentlichen Arbeitsorgane ausbricht« (MEW 23, S. 402). Unterwirft die Warenwelt sich das gesamte Leben, so die Fabrik sich den Arbeiter. Er wird dem kapitalistischen Prinzip vollends »subsumiert«. Selbst »die Erleichterung der Arbeit wird zum Mittel der Tortur, indem die Maschine nicht den Arbeiter von der Arbeit befreit, sondern seine Arbeit vom Inhalt« (MEW 23, S. 446) – es ist die Maschine, die »tote Arbeit, welche die lebendige Arbeitskraft beherrscht und aussaugt«.
Wir haben bereits mehrmals gesagt, welch ein großer Literat Marx war, und man stelle nun für einen Augenblick Überlegungen hintan, wie sehr oder wie wenig diese Schilderung mit unserem zeitgenössischen Kapitalismus zu tun hat: Ist unsere Frankenstein-Geschichte von dem |107| Monstrum, das, von Menschenhand geschaffen, sich gegen seinen Erzeuger wendet, nicht gerade umgeschlagen in eine klassische Vampir-Geschichte, von den Unwesen, die den Menschen ihr Wesenhaftes aussaugen?
Ohne Zweifel läßt sich darüber streiten, wie viel Marx’ Schilderung mit dem Kapitalismus unserer oder früherer Tage zu tun hat, wenngleich feststehen dürfte, daß mit der äußeren Landnahme der warenproduzierenden Gesellschaft auch eine innere Kolonisation stattgefunden hat, menschliche Bedürfnisse zurechtgebogen, diszipliniert, an das fabrikmäßige Funktionieren angepaßt, die Menschen buchstäblich
hergerichtet
wurden. Noch die Befreiung von äußeren Reglementierungen, wie wir sie im neuesten, flexiblen Kapitalismus erleben, bestätigt diesen Prozeß, setzt dieser doch ein innerlich abgerichtetes – oder, um es mit einem modernen Wort zu sagen:
formatiertes
– Produzenten- und Unternehmer-Individuum voraus, ohne welches derselbe gar nicht zu funktionieren vermöchte – die Subjekte müssen nicht mehr an der kurzen Leine gehalten werden, schier unsichtbare Fäden sachlicher Abhängigkeit reichen aus, produziert die Produktion schließlich seit fast zweihundert Jahren »nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand« 94 .
Und ist die systemtheoretische These vom autopoietischen
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