Marx fuer Eilige
altersweise schon in frühen Jahren, war Marx’ Arbeitsfähigkeit jedoch zunehmend eingeschränkt. Kein größeres Werk sollte er bis zu seinem frühen Tod 1883 mehr publizieren oder auch nur in die Nähe der Druckreife bringen. Es war, als wäre |116| mit der Veröffentlichung des »Kapital« sein Leben tatsächlich vollbracht. Er starb gewissermaßen als chronisch Unvollendeter, eineinhalb Jahre nach dem Tod seiner Frau Jenny, nur zwei Monate nach dem seiner Tochter »Jenny chen « – zwei persönliche Schläge, von denen sich der 65jährige nicht mehr erholen konnte.
Seine Hinterlassenschaft, in der das Neue oft nur angedeutet blieb, war so grandios wie disparat – dies ist auch eine Ursache für den späteren Streit der Interpretationen, für den scholastischen Disput der Deutungen. Das Monument aus Nicht-Durchgearbeitetem blieb offen für Auslegungen vieler Art. Dies gilt vor allem wohl für einen ganz prominenten Topos in Marx’ Œuvre, der uns nur als Torso überliefert ist: seine Ideologietheorie. Denn wenn Marx zwar, wie wir gesehen haben, den materiellen Existenzbedingungen der Menschen wesentliche geschichtliche Gewalt zuschrieb, so haben die Menschen doch die Möglichkeit, in den Lauf der Dinge einzugreifen. Allein, die Revolte ist keine einfache Sache, nicht nur weil die automatische Weltmaschine ihren Eigensinn entwickelt, dem die Subjekte schwer beizukommen vermögen, sondern weil zudem die Herrschaft in die Subjekte einwandert. Sie werden gleichsam ummontiert, und in ihnen liegen alte, überkommene Traditionsreste, neue Illusionen und disparate Bilder im Streite, mit Hilfe derer sie diese Welt deuten. Aber es sind nicht so sehr die Menschen, die unaufgeklärt sind, sondern die Verhältnisse, deren innere Ordnung nicht offen zutage, sondern nur »mystifiziert« (MEW 25, S. 58) in Erscheinung tritt.
Hierin liegt die Brisanz, die aller Ideologie zukommt. |117| Die Deutungen und Mystifikationen spielen natürlich eine wesentliche Rolle, hängt von ihnen doch beispielsweise ab, ob die Menschen die gesellschaftlichen Verhältnisse als gerecht oder ungerecht, natürlich und unveränderbar oder als von Menschen produzierte und veränderbare betrachten. Dieses Verhältnis von ökonomischer Struktur und Mystifikationen in den Köpfen war für Marx eine raffinierte Beziehung, deren Entschlüsselung er an verschiedenen Stellen seines Werkes versuchte. Er kam dabei zu Resultaten, die sich bei oberflächlicher Betrachtung oft widersprechen. In einer seiner berühmtesten – und auch umstrittensten – Passagen entwirft er 1859 das Bild einer zweistöckigen Topik:
»In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, |118| innerhalb deren sie sich bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen.«
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