Marx fuer Eilige
alle gehorchen einer Ratio, die wir nicht zu beeinflussen vermögen. Hier kann man nicht kapitalistisch oder sozialistisch wirtschaften, nicht eigennützig oder humanistisch, sondern nur gut oder schlecht. Das neoliberale Einheitsdenken, daß kaum mehr unterschiedliche Entwicklungspfade denkbar sind, die zu beschreiten die Menschen sich entscheiden können, ist längst allgemein durchgesetzt. Die Austauschbarkeit der Programme der politischen Parteien, beispielsweise der mächtige Drang zur »Mitte«, ist nur ein Indiz dafür. Jeder ambitioniertere Eingriff ins Wirtschaftsleben, den Regierungen etwa wagen, hat Folgen, die nicht selten den Intentionen der Akteure entgegenwirken, und führt sofort ein Eigenleben, so daß die Problemlösungen von heute oft nur die Probleme von morgen schaffen. Der stumme Zwang der Verhältnisse ist längst zur zweiten Natur der Bewohner moderner westlicher Gesellschaften geworden. Und – verkehrte Welt! – es ist ausgerechnet diese Epoche, |111| die als Leitbild das autonome Individuum erzeugte, als wären die ihrer selbst bewußten Subjekte Herren ihres Lebens. Was wir auch tun, wir verhalten uns richtig und falsch zugleich. Was wir falsch machen, machen wir richtig; was wir richtig machen, machen wir falsch. Indem wir unsere Interessen verfolgen, handeln wir unseren Interessen zuwider. Wenn ein Unternehmer die Einkommen seiner Beschäftigten erhöht, verhält er sich nicht nur menschenfreundlich, er tut dem Kapitalismus als ganzem etwas Gutes – nur läuft er höchste Gefahr, selbst ganz schnell bankrott zu gehen. Gute Vorsätze bringen die Menschen – wie einst Brechts Shen Te – »an den Rand des Abgrunds, gute Taten stürzen ihn herab«. Die ökonomische Ratio setzt sich – nach einem Wort von Engels – als »eine Wechselwirkung« einer unendlichen »Menge von Zufälligkeiten durch«, als Resultat vieler Einzelwillen; heraus kommt etwas, was streng besehen niemand gewollt hat. Die ökonomischen Kräfte sind so gesehen von Anfang an
Kraft von niemandem
100 . Der Mächtigste und der Ohnmächtigste, sie sind beide nur Komparsen in einem absurden theatrum mundi – Gefangene von Rollen, deren Autoren sie nicht sind. Denn dieses Theater ist, um es mit Louis Althussers schöner Wendung zu sagen, »sei nem Wesen nach ein Theater ohne Autor« 101 .
Es ist dies die Geschichte einer automatischen Welt, einer eigensinnigen Weltmaschine, eines Autopiloten, dem niemand mehr ins Steuer zu greifen vermag, die Marx in seinem Lebenswerk auf so grandiose Weise beschrieben hat – jener Karl Marx, den manche heute nicht zu Unrecht einen großen Satiriker nennen.
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|112| Camera Obscura Oder: Sind die herrschenden Ideen die Ideen der Herrschenden?
Marx’ Ideologietheorie. Eine erstaunlich aktuelle Hinterlassenschaft
Das »Kapital« hat Marx »fünfzehn Jahre seines Lebens und einen großen Teil seines an die Öffentlichkeit drängenden Ehrgeizes gekostet. Die Arbeitsleistung, die er darauf verwandt hat, ist wahrhaftig gewaltig. Dem Buch zuliebe hat er Armut, Krankheit und öffentliche wie persönliche Verfolgung auf sich genommen, zwar ungern, aber mit einem zielbewußten Stoizismus, dessen schroffe Stärke alle bewegte und erschreckte, die mit ihm in Berührung gekommen sind« (Isaiah Berlin) 102 . Als er am 5. Mai 1867, an seinem 49. Geburtstag, die Korrekturfahnen des ersten Bandes des »Kapital« erhielt, muß von Marx eine große Last abgefallen sein. Erstmals lag jetzt ein Aspekt seiner theoretischen Konstruktion ausformuliert vor, für alle Welt sichtbar, lesbar, kritiserbar. Bisher hatte er die Elemente seiner Weltanschauung immer gleichsam nebenbei, in polemischer Auseinandersetzung mit anderen Autoren entwickelt: den historischen Materialismus in der Kritik an Proudhon und in der »Deutschen Ideologie«; Elemente einer Staatstheorie waren bloß hier und da eingestreut; von einer ausgereiften Ideologietheorie ließ sich kaum sprechen – all diese Momente waren oft nur blitzlichtartig in den verstreuten Schriften Marx’ hochgeschossen. Auch vom polit-ökonomischen Monument war gerade eben das |113| erste Stockwerk fertig. Die Bände zwei und drei des »Kapital« lagen teilweise erst in Notizen vor, daneben stapelten sich die »Theorien über den Mehrwert«, die heute immerhin drei Bände der Marxschen Werkausgabe füllen. All dies hätte noch durchgearbeitet, ausformuliert, gebügelt und poliert gehört. Und was hat Marx nicht noch alles vorgehabt: »Wenn ich die
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