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Marx, my Love

Marx, my Love

Titel: Marx, my Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Grän
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abgeschlossen, das hatte ich Ihrer Frau auch telefonisch mitgeteilt. Haben Sie die angebliche Beobachtung Ihrer Frau der Polizei erzählt?«
    Lenz lächelt. »Noch nicht. Aber er steht ganz oben auf der Liste der Verdächtigen, nicht wahr? Der arme Harry, ich habe persönlich nichts gegen ihn, im Gegenteil. Dieser Köter war ohnehin eine Pest und Rosis hündische Zuneigung etwas übertrieben. Wollen Sie wirklich nichts mehr trinken? Champagner macht durstig, finde ich.«
    Anna schüttelt den Kopf. Ihr Durst ist gestillt, beinahe. »Während Ihre Frau sich in der Toilette befand, waren da alle am Tisch anwesend?«
    Stimmungswechsel. Jacob Lenz lässt sich so heftig auf die Couch fallen, dass Anna wie auf einem Sprungbrett nach oben hüpft. Er hat seinen Unterarm theatralisch übers Gesicht gelegt und jammert: »Ist das ein Verhör? Mit welchem Recht quälen Sie mich?«
    Er ist in die Rolle des leidenden Witwers zurückgefallen, des erschöpften Mimen und egomanischen Alten. Lenz hält die Augen geschlossen. Er gibt den Faust am Rande des Abgrunds, und Anna hievt sich aus der Couch hoch und blickt zu ihm hinunter. Sie muss kein Mitleid mit ihm haben, er hat selbst genug davon. Das Rouge auf einer Wange ist ein bisschen verschmiert, er bräuchte jetzt eine Maskenbildnerin. Oder Champagner, Koks, eine der kleinen Schauspielerinnen oder Nutten, mit denen Rosi ihre Männer unterhielt. Sie war eine Frau, die anderer Leute Schwächen erbarmungslos ausnutzte. Wie hat er das ertragen in all seiner Eitelkeit?
    Hat er sie umgebracht, weil er stoned war und der Versuchung nicht widerstehen konnte, sie ein für allemal loszuwerden? Anna glaubt es nicht, hat aber keine vernünftige Begründung dafür. Schließlich ist er jetzt Alleinherrscher in diesem Haus und in der Firma. Hass ist eine gängige Todsünde unter Eheleuten. »Ich bin nur neugierig, Herr Lenz. Verzeihen Sie mir. Sie möchten sicher, dass ich jetzt gehe.«
    Keine Antwort. Sein Arm liegt immer noch über den Augen, und der Mund bewegt sich nicht. Anna beugt sich zu ihm, das verdammte Kreuz tut weh vom langen Sitzen auf dieser unmöglichen Couch, und sie schlägt ihm sacht auf den Arm. Keine Reaktion. Koma? In einem Anflug gelinder Panik überlegt Anna, was jetzt das Richtige wäre: Hilfe holen oder verschwinden? Aber schneller, als sie denken kann, hat er ihren Arm gepackt, sodass sie sich nicht mehr aufrichten kann. Ihre Bandscheibe sendet Grüße aus dem Jenseits. »Aua, lassen Sie mich los.«
    Er lockert seinen schmerzhaften Griff, und Anna befreit sich und richtet sich auf. Sie hat keine Angst, nur Rückenschmerzen. »Wagen Sie es ja nicht, mich nochmals anzufassen. Ich gehe jetzt.«
    Während sie nach ihrer Handtasche greift, beginnt er zu lachen. Es klingt ekelhaft. »Ja, geh doch, Anna Marx. Die Tür ist offen. Glaubst du, ich will dich vergewaltigen? Da krieg ich besseres Fleisch, das kannst du mir glauben.«
    Anna ist schon an der Tür. Sie liebt es, das letzte Wort zu haben. »Von Ihrer Frau bezahltes…?«
    Und draußen ist sie, an der Tür, die zum Kiesweg führt, der von Rosensträuchern gesäumt ist. Sie hört Glas klirren, kurz bevor sie die schwere Haustür zuschlägt. Sie ist mit Rosamundes Firmenlogo geschmückt, dem goldenen »Oscar«. Die vierbeinige Ausgabe nähert sich jetzt aus dem Garten, und Anna vergisst ihren schmerzenden Rücken und beginnt zu laufen.

9. Kapitel
     
     
     
    Der Russe interpretiert Eugen Onegin und sieht dabei aus wie ein Karpfen im Todeskampf. Er singt in der Originalsprache der Tschaikowsky-Oper, und Anna versteht kein Wort. Sie leidet. Nicht, weil in diesem Werk, so die vorangegangene Belehrung der Zuhörer, alle aufrichtigen Gefühle dem Stumpfsinn einer dekadenten Gesellschaft zum Opfer fallen. Das kommt vor in allen Zeiten und Sprachen. Anna leidet am Gesang. Sie gehört zum kulturellen Abschaum der Opernverweigerer. Nur einmal Wagner, das war noch zu Schulzeiten, und nie wieder wollte sie Menschen auf der Bühne sehen, die sich ununterbrochen ansingen, was zu überhören unmöglich ist.
    Der Russe steht auf einer Leiter, auf der ersten Sprosse, dies ist das Bühnenbild, denn im »Club erfolgloser polnischer Frauen« gibt es kein Podest, nur Linoleumboden, Tische und harte Stühle sowie Teeküche und Toilette, die aufzusuchen Anna nicht wagt. Es würde die andächtig Lauschenden stören. Also rutscht sie auf ihrem Stuhl und versucht, alle körperlichen Bedürfnisse zu ignorieren. Sibylle neben ihr hat die Augen

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