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Marx, my Love

Marx, my Love

Titel: Marx, my Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Grän
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geschlossen. Schläft sie?
    Anna beobachtet das Publikum, es sind nur zwei Männer anwesend, Sängerfreunde, wie Anna vermutet, und viele polnische Frauen. Heute stricken sie nicht, sondern hören konzentriert, fast entzückt dem vertonten Leiden des Eugen Onegin zu. Der Sänger wird von einer Pianistin begleitet, die einen Oberlippenbart trägt. Sie wogt mit ihrem Körper, während sie spielt, und sie lächelt ununterbrochen. Ihr scheint zu gefallen, was sie hört.
    Die Neonröhren an der Decke spenden nicht nur Licht, sondern auch Wärme. Der Russe, der Fjodor heißt, schwitzt beim Singen, Anna beim Zuhören. Sie muss wahnsinnig gewesen sein, seine Einladung anzunehmen. So viel Ungemach in ihrem Leben resultiert daraus, dass sie nett und freundlich sein will. Sie sollte sich das abgewöhnen und eine böse Alte werden. Ab fünfzig. Sofern sie nicht doch einen Weg findet, an diesem Tag die Atmung einzustellen. Genügt es, wenn man die Luft anhält?
    Viele Frauen in diesem Raum sind in Annas Alter, und sie sind nicht geliftet, manche vollkommen ungeschminkt. Ein paar tragen Kopftücher, andere Hüte, und sie haben sich fein gemacht auf eine schlichte Art, so wie Rafael es wohl gemeint hat. Viele gute Gesichter, in die das Leben etwas hineingeschrieben hat, das nicht unbedingt schön war. Unter den jungen Frauen fallen Anna zwei auf, die ausgesprochen attraktiv sind, dies allerdings übertrieben betonen. Zu viel Schminke und zu wenig Kleidung: Sie sitzen in der letzten Reihe und sehen nicht so aus, als ob der Gesang sie hinreiße. Sie tuscheln miteinander und werden von ihren Nachbarinnen zuerst böse angeschaut und alsbald angezischt. Sie sind nicht zu übersehen, und sie passen nicht hierher.
    Ein Kind hustet, verzweifelt, wie Anna glaubt. Die Mutter hält ihm eine Hand vor den Mund. Fjodors Stimme kippt, sie ist von Tschaikowsky überfordert, doch die Frauen lächeln darüber. Sie haben Schlimmeres erlebt, denkt Anna und bewundert den selbstgestrickten Pullover ihrer Nachbarin zur Rechten. Er ist schwarz mit roten Herzen, die zu leuchten scheinen. Gibt es Neonwolle?
    Links schnarcht Sibylle, zumindest ein Röcheln ist zu hören, und Anna stößt sie in die Seite. Die Freundin schreckt auf und flüstert: »Wo bin ich?«, fängt Annas drohenden Blick ein und verstummt. Ihr Gesichtsausdruck sagt, dass sie Anna diesen Abend so schnell nicht verzeihen wird. Eigentlich wollte Sibylle zu Hause bleiben und eine Nacht ohne Gäste, Freunde oder Beischlaf verbringen. Sie fühlt sich so müde in letzter Zeit, irgendetwas stimmt nicht mit ihr, und sie sollte zum Arzt gehen, doch davor hat sie Angst.
    Sibylle ist vierundvierzig, sie war immer gesund und fit, und nun fürchtet sie die Krankheit. Irgendeine. Brustkrebs, der statistisch jede zehnte Frau trifft. Oder Leukämie, ihre Tante ist daran gestorben. Etwas frisst sie von innen auf, so fühlt sie sich jedenfalls, und Anna nahm sie nicht angemessen ernst, als sie klagte.
    Mehr Schlaf und weniger Sex, das ist ein feiner Ratschlag. Anna meint, dass Ärzte krank machen. Also geht sie nie hin und schont das sieche Gesundheitssystem. Anna ist so robust, und ihre zarte Seele entblößt sie selten. Trägt sie nach innen und spielt Philip Marlowe nach der Geschlechtsumwandlung. Die starke Frau geht auf dem dünnen Eis der Verzweiflung und bemüht sich, nicht einzubrechen. »Die Ohren steif halten«, sagt Anna.
    »Fällt dir nichts Besseres ein?«
    Anna: »Das ist meine ganze Weisheit.«
    An anderen erkennt man alles viel klarer, was zur Selbsterkenntnis wenig beiträgt. So traurig, diese Musik. Anna sieht aus, als ob sie kurz davor steht, nach vorne zu laufen und den Sänger von der Leiter zu schütteln. Es ist schön, dieses Anna-Gesicht, wenn man es mit dem Blick der Zuneigung bedenkt. Sie schminkt sich weniger in letzter Zeit, und das Auge ist abgeschwollen, nur an den Rändern schimmert es noch violett. Sieht interessant aus.
    Annas lächerliche Angst vor der Zahl fünfzig: Als ob man wissen könnte, dass man von einem Tag auf den anderen das Leben nicht mehr mag.
    Dahinter verbirgt sich eine Angst, die Sibylle allerdings nachvollziehen kann: dem Tod ganz allein entgegenzugehen. Einsamkeit. Der Tag, an dem dir kein Mann mehr einen zweiten Blick schenkt, und die Nacht, die ohne Sex bleibt. Gott bewahre. Sie wird die Kneipe verkaufen und mit Anna nach Italien ziehen. Ein Haus mit Pinien und einem hübschen Gärtner, den sie sich teilen. Wenn die Krankheit nicht alle Pläne

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