Marx, my Love
nein, er ist impotent. Sagt er. Die Ausrede von Männern, die keinen hochkriegen. Und sie sollte nicht immer an Sex denken. Sondern an Lily. Anna fühlt, dass sie sich beeilen muss. Lily und die Tiefkühltruhe warten, und wenn sie zu spät kommt, wird etwas Schreckliches geschehen.
Sie winkt der Taxe, die mit quietschenden Bremsen vor ihr hält. Der Fahrer trägt einen Turban. Er spricht kein Deutsch, nur Englisch, und aus dem Kassettenrekorder dringt laute indische Musik. Er hat ein wundervolles Lächeln und fährt sehr exotisch. Als er ein Motorrad überholt, sieht Anna nach hinten, weil sie meint, den Bullen erkannt zu haben. Doch es ist nur ein dicker Mann auf einer gewaltigen Maschine. Lily und die Leiche warten. Anna bittet den Fahrer, sich zu beeilen. Er lächelt so breit, dass sie sein Zahnfleisch sehen kann. »Time is money«, sagt er und nimmt den Fuß vom Gaspedal.
21. Kapitel
Wenn es um Leben und Tod geht, stehen die Ampeln auf Rot. Blechlawinen wälzen sich durch die Stadt, und Fußsohlen treten auf Bremspedale, während Taxifahrer über schwule Verkehrspolitik lamentieren. Anna hat das Gefühl, dass sie ewig unterwegs war, erst mit und dann ohne Lily, und natürlich waren es Nichtrauchertaxis mit preußischen Griesgramen, die sich nicht bestechen ließen.
Bevor sie die Treppe zu Fjodors Wohnung hochläuft, zündet sie sich eine Zigarette an. Der Russe duldet keinen Rauch in seiner Wohnung. Sie sitzt auf der Treppe und zieht ihre Schuhe aus, inhaliert Gift und betrachtet das blutige Pflaster an ihrem Zeh mit Selbstmitleid und Ekel. Sie kann kein Blut sehen, konnte es nie. Ein wirklich guter Detektiv hasst Blut, heiratet nicht und ist im Grunde seines Herzens feige. Er begibt sich in Gefahr, um diese Schwäche zu umgehen. Die Regeln, gegen die sie bereits verstoßen hat, lösen Schwindelgefühle aus. Sie ist nicht mutig, nur meschugge.
Anna hat nicht nur die Pistole, sondern auch Lilys Nachthemd und Unterwäsche in ihre Handtasche gestopft, bevor sie aufbrachen. In dramatischen Situationen praktisch zu denken ist eine Folge leidenschaftsloser Erziehung. Und doch hat sie Glück gehabt, nicht als Lily aufgewachsen zu sein. Als Mensch, der zentimeterweise stirbt, während die anderen mit geschlossenen Augen zusehen. Sie hat Lily wie eine Puppe von Harrys Fensterbank gehoben und zum Taxi geführt und während all der Zeit beruhigend auf sie eingeredet. »Alles wird gut«, hat sie zu Lily gesagt und nicht daran geglaubt. Für gewisse Menschen wird diese Welt nie gut sein.
Lily wehrte sich nicht, doch sie sagte kein Wort. Sie drehte ihren Kopf in Richtung Gartenhaus, als sie abfuhren. »Hier stinkt’s gewaltig«, sagte der Fahrer und versprühte Tannenduft, von dem Anna übel wurde. Lily legte ihren Kopf in Annas Schoß während der Fahrt und träumte mit offenen Augen.
»Ist sie krank?«, fragte der Preuße, und Anna gab ihm keine Antwort. Gespräche mit Taxifahrern hat sie sich in Berlin abgewöhnt. Sie hielt Lilys Hand fest. Kräftige Finger, alles an dem Zwerg war muskulös und stark, obwohl er so zierlich wirkte. Sie war wie eine Feder auf Annas Haut und so schwer wie Granit. Die Tränen weinte Anna, nicht Lily. Die war schon weit weg, in einem Land, das nur sie kannte. Anna wünschte für Lily, dass es schön sei und weit weg von Schuld und Sühne.
Sie übergab sie an Daniel und fühlte sich wie eine Verräterin. Er fragte nichts, wofür sie ihm dankbar war. Daniel nahm Lily in Empfang wie ein kostbares Paket und legte sie behutsam auf die Couch in seiner Praxis. »Sie ist sehr krank«, sagte Anna, und sein Blick erwiderte, dass diese Bemerkung überflüssig sei. Er hatte ein gutes Gesicht, und Anna konnte verstehen, dass Sibylle sich um seine Rückführung in die sexuelle Welt der Frauen bemüht hatte. »Nur zwei Tage«, sagte der Psychiater, und Anna nickte. In zwei Tagen wurde sie fünfzig, und es war gut möglich, dass bis dahin die Welt unterging. Oder ein Wunder geschah. Sie war viel zu müde und traurig, um eine Alternative in Betracht zu ziehen.
»Das Rauchen im Treppenhaus ist verboten«, sagt eine Stimme, und Anna hebt den Kopf. Fjodor steht vor ihr, mit einer Einkaufstüte in der Hand. Er sieht so satt und glücklich aus, dass Anna Lust verspürt, die Zigarette auf seinem Kinn auszudrücken.
»Was zum Teufel machst du hier? Warum bist du nicht bei Joy?«
Fjodor setzt die Tasche ab. »Laute Geräusche sind auch verboten. Du beleidigst mein Ohr. Joy schläft, und ich war
Weitere Kostenlose Bücher