Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht
den Hunden die Schuld zu geben«, sagte ihre Mama. »Weil alle und jeder mir sagten, ich sollte mir selber keine Schuld geben. Verstehst du, ich hatte vorher auch die Grippe gehabt.«
»Die kriegt doch sowieso jeder«, sagte Scarlett.
»Womit du recht hast«, sagte ihre Mama. »Du bist sehr klug. Aber damals war das eine ernstere Sache. Menschen starben daran. Meine Mutter starb.«
»Sie ist nicht gestorben«, sagte Scarlett. »Sie ist bloß gegangen.«
»Grundgütiger«, sagte ihre Mama. »Von wem hast du das denn?«
»Von niemandem«, sagte Scarlett. »Es war einfach in meinem Kopf.«
Ihre Mutter beugte sich herunter und drückte einen Kuss auf Scarletts Kopf.
»Na so was.«
Sie gingen in die Küche.
»Hast du in dem Schweinestall gewohnt, nach deinem Tod?«, fragte Scarlett Tansey.
»Natürlich nicht, Herzchen«, sagte Tansey. »Ich bitte dich, warum sollte ich in einem Schweinestall wohnen wollen? Selbst wenn ich tot bin und nichts mehr riechen kann.«
Sie saßen immer noch in der Küche.
»Ich fand ihn jedenfalls immer unheimlich«, sagte Scarlett.
»Das war jetzt nicht besonders nett, Mama«, sagte Mary.
»Was?!«
»Zu sagen, Tansey sei unheimlich gewesen«, sagte Mary. »Irgendwie ist sie ja immerhin deine Großmutter.«
»Ich sagte, der Schweinestall sei unheimlich gewesen.«
»Weil Tansey darin war.«
»Aber das war sie doch gar nicht!«, sagte Scarlett. »Hat sie doch eben gesagt!«
»Aber du hast angenommen …«
»He, genug davon, Mädels«, sagte Tansey. »Ihr weckt noch die Toten auf. Das funktioniert, schaut mich an.«
»Entschuldigung.«
»Also dann«, sagte Tansey. »Das Sterben an sich war schon schlimm genug – und wirklich nicht angenehm, das kann ich euch versichern. Aber Emer so ganz allein zurücklassen – das konnte ich nicht. Mein Mann …«
Sie schaute Scarlett an.
»Dein Großvater«, sagte sie, »war ein wunderbarer Mann. Er versuchte sein Bestes und er versuchte es mit Erfolg. So zuverlässig wie der Regen. Er war Papa und Mama für Emer. Außerdem war da noch seine Mutter, und auch sie war großartig. Trotzdem konnte ich nicht gehen. Ich musste bleiben. Bis sie selber Mama wurde. Und selbst dann konnte ich nicht loslassen. Ich hatte immer Angst, sie könnte …«
»Tansey?«, sagte Mary.
»Ja, Herzchen?«
»Oma liegt im Krankenhaus.«
»Das weiß ich«, sagte Tansey. »Deshalb bin ich ja hier.«
Sie seufzte. »Ich verweilte«, sagte sie. »Wieder dieses Wort. Sie war so klein, versteht ihr – ich konnte sie nicht verlassen. Ich war einfach besorgt um sie. Bin es immer noch.«
Scarlett ergriff das Wort.
»Wir fahren meine Mutter – Emer – jetzt besuchen«, sagte sie. »Willst du mitkommen?«
»Ja«, sagte Tansey. »Das würde ich gern.«
Sie setzte sich aufrecht hin.
»Aber ich kann nicht.«
»Warum denn nicht?«, sagte Mary.
»Na, schaut mich doch an«, sagte Tansey. »Ich bin ein Geist.«
»Und?«
»Das Letzte, was die in einem Krankenhaus brauchen, ist ein herumstreunender Geist«, sagte Tansey. »All die Herzinfarkte – könnt ihr euch das vorstellen? Glaubt mir, ihr Herzchen – todkranke Menschen wollen keine Geister sehen.«
»Aber irgendwie ist im Krankenhaus sowieso alles schrecklich«, sagte Mary. »Du würdest gar nicht auffallen. Also, ich meine nicht, dass du auch irgendwie schrecklich bist. Bist du nicht. Aber die meisten Leute dort sehen so aus, als wären ihnen ihr Leben lang Geister über den Weg gelaufen. Einige von ihnen sind Geister. Können Geister rauchen?«
»Nein«, sagte Tansey. »Leider nicht.«
»Warum würdest du rauchen wollen?«, sagte Mary.
»Will ich gar nicht«, sagte Tansey. »Aber ich würde gern husten können. Ein richtig guter, altmodischer Husten. Das wäre großartig. Es wäre schön, meine Lungen wiederzuhaben.«
Sie lächelte.
»Hört nicht auf mich«, sagte sie. »Rauchen ist eine üble Angewohnheit. Für einen Toten ist es nicht gut, zu lange von Lebenden umgeben zu sein. Ihr macht mich neidisch. Auf eure Lungen.«
Sie betonte es so, dass Mary und Scarlett lachen mussten.
»Ich würde Emer wirklich gern sehen«, sagte Tansey. »Sie hat Angst, oder?«
»Ja«, sagte Scarlett.
»Ich kann ihr helfen, versteht ihr?«, sagte Tansey. »Ich kann – nun ja – ich kann ihre Mutter sein.«
Sie lächelte. »Danach kann ich gehen.«
»Wohin?«, fragte Mary.
»Nun«, sagte Tansey. »Dahin, wo ich all die Jahre längst hätte sein sollen.«
»Oh. Klar«, sagte Mary.
»Oh, klar, ist genau richtig,
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